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Die Notlage der westlichen Balkanstaaten ist ein Weckruf für Europa
24.03.2021

Unsplash
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Die jüngste Reform der Erweiterungspolitik reichen nicht aus, obwohl aktuell die Zeit ist vom Reden ins Handeln zu kommen. Pragmatischer Optimismus und geopolitischer Realismus würden helfen, die Negativspirale aus Corona‑, Reform- und Erweiterungsmüdigkeit zu durchbrechen.

Die Corona-Pandemie hinterlässt auch in den Ländern des Westbalkans tiefe Spuren. Sie verschärft ihre Probleme und entlarvt institutionelle Schwächen, insbesondere im Gesundheitswesen und in der Sozialpolitik. Gleichzeitig ist die große positive Wirkung des EU-Erweiterungsprozesses in den vergangen Jahren eher überschaubar: Reformbestrebungen stagnieren und Rechtsstaatlichkeit verliert in einigen Ländern weiter an Boden.

Die Gesundheitskrise verstärkt das geopolitische Spannungsfeld in der Region. Der Wettbewerb um dringend notwendige Impfdosen erhöht den Einfluss Chinas, aber auch Russlands und der Vereinigten Arabischen Emirate. Die EU ist schon lange nicht mehr der einzige potenzielle Partner, der seine Unterstützung anbietet. Andere Akteur:innen, mit mehr als zweifelhaftem demokratischen Track Record, missbrauchen den Westbalkan für Interessenpolitik und stehen der Entwicklung der europäischen Vision eines demokratischen Balkans entgegen.

Nach einer langen Durststrecke in der EU-Erweiterung wäre es daher gerade jetzt an der Zeit, vom Reden ins Handeln zu kommen und die politische Erweiterungsagenda wieder voranzutreiben. Die Europäisierung der eigenen Nachbarschaft muss an politischem Stellenwert gewinnen und mit einer substanziellen Finanzierung einher gehen. Die jüngste Reform der Erweiterungspolitik beinhaltet einige neue Ansätze und Mechanismen, sie reicht aber noch nicht aus, um den Ländern der Region die Sorge vor einem permanenten Ausschluss aus dem europäischen Integrationsprojekt zu nehmen. Nimmt man die vielfältige Krisenlagen in den potenziellen EU-Beitrittsländern ernst, müssen insbesondere die Investitionspläne für die Region ambitionierter ausfallen und rascher umgesetzt werden.

Parallel dazu braucht es eine interne Erneuerung der EU. Ohne konsolidierte Strukturen und eine verbesserte Funktionsweise wird die "Aufnahmefähigkeit" der Union auch in den nächsten zehn Jahren nicht vorhanden sein, was das negative Szenario einer Verschiebung der etwaigen Erweiterung auf den Sankt-Nimmerleinstag nur wahrscheinlicher macht. Die EU darf sich aber nicht ausschließlich der Nabelschau widmen und vor wachsenden Herausforderungen in nächster Nachbarschaft die Augen verschließen. Etwas mehr pragmatischer Optimismus und geopolitischer Realismus würden schon helfen die Negativspirale aus Corona‑, Reform- und Erweiterungsmüdigkeit zu durchbrechen. Eine EU als globaler Akteur, mit einer geopolitischen EU-Kommission im Zentrum des Geschehens, wäre die notwendige Grundlage für einen erfolgreichen Export europäischer Werte. Es reicht eben nicht die europäische Lebensart verteidigen zu wollen. Sie muss vielmehr inspirieren und mit demokratischen Werten und Errungenschaften überzeugen.

Der Westbalkan leidet unter tiefgreifenden Strukturproblemen und fragilen Demokratien. In der Pandemie wird das ohnehin schon gescholtene System der Checks and Balances weiter ausgehöhlt, werden Parlamente zur Seite gedrängt und die Gerichtsbarkeit geschwächt. In der Krise scheinen Transparenz, Rechenschaftspflicht und politische Verantwortlichkeit politischer Eliten zu Fremdwörtern zu verkommen. Vor diesem Hintergrund wäre die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit das Gebot der Stunde. Umso mehr als Populismus, Polarisierung und autoritäre Tendenzen nicht nur in Teilen Europas sondern weltweit auf dem Vormarsch sind. Sobald die Scheinwerferlichter erlöschen, verabschieden sich so manche Politiker von demokratischen Regeln und tragen mit Klientelpolitik zur Spaltung der Gesellschaft bei. Der Erweiterungsprozess hat zu lange auf nationale und regionale Eliten am Westbalkan und deren leere europäische Versprechungen gesetzt. Gerade hier braucht es neue Ansätze, um den gesellschaftlichen Wandel tatsächlich vorantreiben zu können. Eine massive Ausweitung von bereits bestehenden EU-Programmen etwa in den Bereichen Mobilität, visafreies Reisen, Zivilgesellschaft und freie Medien sowie die kreative Entwicklung neuer Ebenen der Kooperation mit demokratischen emanzipatorischen zivilen Kräften am Balkan wären hier wichtige Schritte.

Die nächsten Jahre werden für die demokratische und europäische Zukunft des Westbalkans entscheidend sein. Neben einer glaubhaften Erweiterungsperspektive und einem positiven Reformnarrativ braucht es unmittelbare Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit, des Dialogs mit der Zivilgesellschaft, des Pluralismus sowie soziale Gerechtigkeit und eine erfolgreichere Bekämpfung von Korruption. Der rezente Regierungswechsel in Montenegro hinterlässt viele Fragen im Hinblick auf die politische Stoßrichtung der neuen Regierung. Bei den Wahlen im Kosovo wiederum gaben gerade die junge Generation und Frauen Albin Kurti and Vjosa Osmani ihre Stimme in der Hoffnung, dass Versprechen letztlich auch umgesetzt werden. In anderen Teilen der Region mobilisieren lokale, progressive und emanzipatorische Bewegungen aus voller Überzeugung für eine gerechtere sowie demokratischere Gesellschaft und geben täglich Zeugnis für das Potenzial zivilgesellschaftlichen Engagements ab.

Diese alternativen Bewegungen sind die Triebfeder gesellschaftlicher Transformationen am Westbalkan. Ihre Stimme zu hören und verstärktes Augenmerk auf die soziale sowie zivile Entwicklung der Region zu richten ist dringend notwendig. Ein erneuerter Erweiterungsprozess und ein ehrlicher Einsatz für eine europäische Zukunft der Region gelingt nur über vertrauensbildende Maßnahmen und die Mobilisierung der BürgerInnen in der Region. Nicht nur der Westbalkan sondern ganz Europa könnten in diesen Krisenzeiten Fairness, Perspektiven und verstärktes politisches Engagement gut gebrauchen.

Paul Schmidt, Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) und Vedran Džihić, Österreichisches Institut für Internationale Politik (oiip) im Namen des WB2EU Netzwerks kofinanziert durch die Europäische Kommission im Rahmen ihres Erasmus+ Jean Monnet Programms (www.wb2eu.eu).

Inva Nela, Cooperation and Development Institute (CDI)
Nedžma Džananović Miraščija, University of Sarajevo, Faculty of Political Sciences
Evelina Staikova-Mileva, New Bulgarian University, Centre for European Refugees, Migration and Ethnic Studies (CERMES)
Senada Šelo Šabić, Institute for Development and International Relations (IRMO)
Amélie Jaques-Apke, EuropaNova Deutschland / Elise Bernard, EuropaNova France
Katrin Böttger, Institut für Europäische Politik (IEP)
Nikolaos Tzifakis, Department of Political Science and International Relations (PEDIS), University of the Peloponnese
Christina Griessler, Andrássy University Budapest (AUB)
Eleonora Poli, Istituto Affari Internazionali (IAI)
Venera Hajrullahu, Change Experts Group (CEG)
Jovana Marović, Politikon Network (PIN)
Ivan Stefanovski, EUROTHINK — Centre for European Strategies
Rufin Zamfir, GlobalFocus Center
Marko Savković, Belgrade Fund for Political Excellence (BFPE)
Marko Lovec, University of Ljubljana, Faculty of Social Sciences — Centre of International Relations (CIR)

Über das WB2EU – Europeanisation meets democracy from below: The Western Balkans on the search for new European and democratic momentum Projekt: Mit Forschungsfragen zur Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit, der sozialen Dimension des Erweiterungsprozesses sowie der Demokratisierung "von unten" vertieft das IEP seine Arbeit zum EU-Erweiterungsprozess gegenüber den Ländern des westlichen Balkans.

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