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integration 3/21
28.09.2021

Inga Kjer / IEP
Inga Kjer / IEP

Der Machtpoker zwischen Frankreich und der Türkei, die „neue Agenda“ für den Mittelmeerraum, das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus drei Perspektiven sind Themen in diesem Heft.

Was bei der Eskalation im Streit zwischen Polen und der EU aufgrund der Missachtung von Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Union leicht vergessen wird: Auch Deutschland liegt nach dem PSPP-Urteil im Mai 2020 mit dem EuGH im Clinch. Aus drei Perspektiven beleuchtet die Autorenschaft das Urteil. In weiteren Beiträgen geht es um die Krisenmonate der französisch-türkischen Beziehungen seit Sommer 2020 und welche Chancen in dieser Krise liegen sowie um die neu aufgelegte Nachbarschaftspolitik der EU im Mittelmeerraum.

Ronja Kempin schreibt über das erkaltete außenpolitische Verhältnis zwischen Frankreich und der Türkei. Darüber hinaus nimmt sie die sich daraus ergebenen Möglichkeiten für eine Neujustierung der Türkeipolitik der EU sowie die Rollenverteilung der (außenpolitischen) EU-Institutionen in den Blick. Im Beitrag von Anja Zorob wird der Bogen der europäischen Beziehungen zur Nachbarschaft noch etwas weiter gespannt: Dort steht die „neue Agenda“ der EU für den Mittelmeerraum im Fokus. Christian Walter zieht in seinem Forumsbeitrag zum PSPP-Urteil eine erste Bilanz und diskutiert die Auswirkungen des Beschlusses auf die Beziehungen zwischen Unionsrecht und Grundgesetz. Für Achim-Rüdiger Börner hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht nur konkrete Folgen für die gesamte Union, sondern stellt zugleich das innereuropäische Geflecht von Souveränität und Kontrollfunktionen infrage. Einen anderen Blickwinkel liefert Peter-Christian Müller-Graff, der die Chancen zur Modernisierung der Wahrnehmung des EU-Rechts betrachtet, die sich für die betroffenen Gerichte (EuGH und BVerfG) durch das Urteil nach einem Jahr Pandemie ergeben haben. Über die internationale Konferenz des Arbeitskreises Europäische Integration zur Krisenrhetorik im Zusammenhang mit der EU berichten Meike Schmidt-Gleim und Claudia Wiesner. Zur Tagung, die sich mit der Rolle der Regionen im Mehrebenensystem der Union befasst hat, berichtet Mirjam Zillober.

Frankreich und die Türkei – Machtpoker ohne Sieger

Ronja Kempin

Im Sommer 2020 haben sich die französisch-türkischen Beziehungen dramatisch verschlechtert. Paris wirft Ankara seither vor, die türkische Diaspora in Frankreich gezielt zu beeinflussen, um die Werte der französischen Republik zu unterhöhlen. Außenpolitisch kreidet Frankreich der Türkei an, die EU und ihre Mitgliedstaaten einzukreisen und bewusst gegen ihre Interessen zu handeln. Weder der ideologische noch der geopolitische Machtpoker der beiden Staaten hat einen Sieger hervorgebracht. Der EU bieten die französisch-türkischen Rivalitäten indes die Chance zu einer umfassenden Neuausrichtung ihrer Türkeipolitik. Die Ausweitung ihrer Konditionalität um innenpolitische Themen ist dabei ebenso wichtig wie eine verbesserte Rollen- und Arbeitsteilung ihrer Institutionen und die geopolitische Betrachtung ihrer Nachbarschaft.

Die erneuerte Partnerschaft mit der südlichen Nachbarschaft: Was ist neu an der „neuen Agenda“?

Anja Zorob

Im Februar 2021 veröffentlichte die Europäische Kommission „eine Neue Agenda für den Mittelmeerraum“ (neue Agenda). Nach der letzten Revision der Europäischen Nachbarschaftspolitik 2015 war die Neuauflage bereits länger erwartet worden. Was aber ist ‚neu‘ an der neuen Agenda? Dieser Frage geht die Studie nach und untersucht inwiefern sie in einer Rückschau auf 25 Jahre Euro-Mediterrane Partnerschaft und Nachbarschaftspolitik einen genuinen Wandel verspricht oder lediglich eine ‚neue Verpackung‘ alter Ziele und Ansätze reflektiert. Unter Nutzung der Inhalts- und Diskursanalyse nimmt sie die Genese der Konzepte und strategische Rahmung ihrer Inhalte in den Blick. Im Mittelpunkt steht dabei ihre im Zeitverlauf stetig wachsende Versicherheitlichung. Während jene mit der neuen Agenda einen weiteren Höhepunkt zu erreichen scheint, lässt sich in ihrem Text vieles finden, das bereits aus früheren Strategiepapieren hinreichend bekannt ist, darunter die Förderung von Rechtsstaatlichkeit und guter Regierungsführung.

Wohin steuern die Ultra-vires- und die Identitätskontrolle? Eine Zwischenbilanz anhand der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im PSPP-Verfahren

Christian Walter

Der Beitrag zieht eine Zwischenbilanz zu den Rückwirkungen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum PSPP-Programm auf das Verhältnis zwischen Unionsrecht und Grundgesetz. Anhand des Zusammenspiels zwischen dem PSPP-Urteil vom 5. Mai 2020 und der nachfolgenden Ablehnung eines Antrags der Beschwerdeführer auf Erlass einer Vollstreckungsregelung wird ein Abrücken des Bundesverfassungsgerichts von der sehr weitreichenden ursprünglichen Forderung nach einem neuen Beschluss der EZB herausgearbeitet. Die Begründung für die Ablehnung der Vollstreckungsregelung macht zudem deutlich, dass es dem Gericht weniger um den prozessual eigentlich im Vordergrund stehenden subjektiven Rechtsschutz zugunsten der Beschwerdeführer geht als vielmehr um die eigene Beteiligung an der weiteren Auseinandersetzung um den Vorrang des Unionsrechts. Der Beitrag kritisiert, dass der Zweite Senat damit das Bundesverfassungsgericht zu einem europapolitischen Akteur macht, ohne dass deutlich würde, welche mittel- und längerfristige Zielsetzung er mit der Ultra-vires- und Identitätskontrolle verfolgt. Selbst wenn es in dem nun von der Kommission betriebenen Vertragsverletzungsverfahren nicht unmittelbar zu einer weiteren Eskalation kommen sollte, wird die Frage nach einer solchen Zukunftsstrategie drängender.

Das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Umfang der Übertragung von Souveränität und Überprüfung von Ermessensgebrauch

Achim-Rüdiger Börner

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Urteil vom 5. Mai 2020 festgestellt, dass das Public Sector Purchase Programme (PSPP) der Europäischen Zentralbank (EZB) aus dem Jahr 2015 und das dazu ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 11. Dezember 2018 zu dessen Rechtmäßigkeit als Ultra-vires-Akte einzustufen sind. Im Gegensatz zum ehemaligen französischen Rechtsverständnis, das dem Urteil des EuGH zugrunde liegt, verlangt das inzwischen in den europäischen Verträgen niedergelegte Verständnis der Verhältnismäßigkeit der Ermessensausübung eine Prüfung anhand der Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit. Die Kritik an der Entscheidung des BVerfG übersieht darüber hinaus, dass dem Beitritt zur und der Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) Schranken durch die jeweilige nationale Verfassung gesetzt sind, deren Missachtung weder von der Union noch von einem anderen Mitgliedstaat vorausgesetzt oder erwartet werden kann. Ausbrechende Rechtsakte (Ultra-vires-Akte) der Union, die von ihr selbst nicht korrigiert werden, unterliegen insoweit der Ablehnung und Verwerfung durch das mitgliedstaatliche Verfassungsgericht.

Das Karlsruher PSPP-Urteil – ein Corona-Jahr danach

Peter-Christian Müller-Graff

Der Beitrag untersucht die Wirkung des breitflächig kritisierten PSPP-Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 auf die Rechtsordnung der Europäischen Union. Er zeigt auf, dass das deswegen von der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland im Juni 2021 eröffnete Vertragsverletzungsverfahren wegen des Verstoßes gegen die Regeln des unionsrechtlichen Vorabentscheidungsverfahrens unausweichlich war, verneint das Erfordernis eines Umbaus der unionalen Gerichtsarchitektur und entwickelt Empfehlungen für eine künftige loyale Zusammenarbeit in derartigen Fragen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof der Europäischen Union.

Über das integration Projekt: Die Vierteljahreszeitschrift "integration" ist ein theoriegeleitetes und politikbezogenes interdisziplinäres Forum zu Grundsatzfragen der europäischen Integration. Aktuelles aus der Europapolitik wird aus politischer und akademischer Perspektive diskutiert.

ISSN/ISBN: 0720-5120
Bild Copyright: Inga Kjer / IEP