Gelten in Zeiten der „Polykrise“ die traditionellen Gründungsnarrative von Frieden und Wohlstand der Europäischen Union noch oder funktionieren heute andere Erzählungen? Der Free-Content-Beitrag liefert eine Analyse europäischer Zusammenhaltsnarrative auf Basis von Plenardebatten im Europäischen Parlament seit 1990. Weitere Aufsätze untersuchen die Bedeutung des Euro auf dem globalen Finanzmarkt und – am Beispiel der Umsetzung des European Green Deals in Ungarn – die Herausforderungen, die sich aus dem EU-Mehrebenensystem für eine gemeinsame kohärente Klima- und Energiepolitik ergeben. Der Forumsbeitrag betrachtet die Chance zur Wiederannäherung von Türkei und EU, die eine Zusammenarbeit in der Klima- und Energiepolitik ermöglichen könnte. Kontinuitäten und Brüche in der Geschichte der hundertjährigen türkischen Republik bespricht die Sammelrezension auf Grundlage von vier seit 2020 erschienenen Werken. Die Diskussionen auf der IEP-Jahrestagung im September 2023 zur EU in Zeiten geopolitischer Rivalitäten zeichnet der Tagungsbericht nach.
Zwischen Furcht und ontologischer (Un)sicherheit: Eine Analyse europäischer Zusammenhaltsnarrative in Zeiten der Polykrise
Franziskus von Lucke/Thomas Diez
Die Bedrohungen durch COVID-19 und Russlands Angriff auf die Ukraine haben als Teil einer „Polykrise“ Fragen von „Sicherheit“ und Zusammenhalt zurück ins Rampenlicht europaweiter Debatten gerückt. In der Geschichte der Europäischen Union sind externe Bedrohungen allerdings eher die Ausnahme. Stattdessen geht es häufig um diffuse, nach innen gerichtete Ängste bezüglich des Wesens der EU – in der Literatur wird gar das Bild einer „anxious community“ gezeichnet. Ausgehend vom Ansatz der ontologischen (Un-)Sicherheit analysiert dieser Beitrag, wie Mitglieder des Europäischen Parlaments angesichts multipler Krisen unterschiedliche Formen europäischer Identität, Handlungsfähigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalts konstruieren. Wir zeigen, dass keineswegs Furcht und Unsicherheit überwiegen, sondern Entscheidungsträger:innen trotz zahlreicher Herausforderungen erstaunlich zuversichtlich bleiben und überzeugt davon sind, dass die EU jede Krise meistern und gerade daran wachsen könne.
Der Beitrag ist frei zum Download verfügbar.
Der European Green Deal im Kontext von Krieg und Energiekrise: Inkohärenzen im EU-Mehrebenensystem am Beispiel Ungarn
Kristina Kurze
Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022 eskalierte die Energiekrise in der Europäischen Union. Neben steigenden Energiepreisen rückte die Energiesicherheit in den Fokus, womit zugleich die Sorge einherging, dass Klimaschutzmaßnahmen verdrängt bzw. abgeschwächt werden könnten. Vor diesem Hintergrund wird gefragt, inwiefern die Umsetzung des European Green Deal (EGD) und der damit verbundenen Klimaziele auch unter den veränderten geopolitischen Kontextbedingungen in der EU weiterverfolgt werden. Der Beitrag liefert eine differenzierte Antwort, indem die Reaktionen auf die Energiekrise im Mehrebenensystem der EU analysiert werden. Es wird verdeutlicht, dass die Energiekrise zu ambitionierteren Klimazielen auf EU-Ebene geführt hat. Die im REPowerEU-Plan formulierte „EU-Gesamtstrategie“ im Einklang mit den Klimazielen des EGD wird aber nicht von allen Mitgliedstaaten kohärent verfolgt, was anhand einer Fallstudie zur ungarischen Energie- und Klimapolitik illustriert wird. Insgesamt ist die Umsetzung des EGD von vertikalen Inkohärenzen im EU-Mehrebenensystem geprägt.
Der Euro im internationalen Finanzsystem: Realitätscheck in einer Dollar-Welt
Paweł Tokarski
Der Artikel analysiert die Rolle, die die Einheitswährung derzeit in einem vom Dollar dominierten internationalen Finanzsystem spielt und welche Maßnahmen ergriffen werden können, um die Position des Euro in der internationalen Währungshierarchie zu stärken. Im ersten Teil analysiert der Autor die treibenden Kräfte hinter der Internationalisierung von Währungen und erörtert den aktuellen Status des Euro im internationalen Währungssystem. Anschließend erläutert er die Vorteile und Risiken der Währungsinternationalisierung und wie Finanzmarktintegration, Ökologisierung und Digitalisierung die Position des Euro in der globalen Währungshierarchie stärken können. Im letzten Abschnitt werden die Zukunftsaussichten der Einheitswährung in einem internationalen Finanzsystem bewertet, das Regionalisierung- und Digitalisierungstendenzen unterworfen ist.
Energie- und Klimapolitik in den EU-Türkei-Beziehungen: Chance für einen neuen Dialog
Moritz Rau
Die Energie- und Klimapolitik birgt ungenutztes Potenzial für bessere EU-Türkei Beziehungen. Eine engere Abstimmung könnte die Energiewende in der EU und der Türkei vorantreiben und beiden Akteuren eine Perspektive bieten, ihre Gas- und Ölhandelsgeschäfte mit Russland zu reduzieren. Die angestrebte Dekarbonisierung bleibt jedoch eine große Herausforderung. Kritiker:innen bezweifeln, dass die türkische Regierung dem Erreichen ihrer Klimaziele die notwendige Priorität einräumt. Umgekehrt gefährden Sorgen um Energiesicherheit, Inflation und veränderte Machtkonstellationen in der EU den europäischen Green Deal. Angesichts dieser Gemengelage untersucht der Text den Stand der europäisch-türkischen Energiebeziehungen und diskutiert Perspektiven für die zukünftige Zusammenarbeit.