Im Free-Content-Beitrag geht es um Narrative zur Europäischen Union (EU). In den vergangenen Jahren hat sich neben das Bild des Friedensprojekts und der Wertegemeinschaft das Narrativ der EU als Sicherheitsgarantin etabliert. Kann die Union in diesen krisenhaften Zeiten ihr Schutzversprechen gegenüber den EU-Bürger:innen festigen?
Weitere Artikel untersuchen, was das geopolitische Momentum für die französische Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 bedeutete, wie die Europäische Zentralbank auf die starke Inflation reagiert und wie sich die EU auf dem Feld der digitalen Diplomatie behauptet. Die zwei Forumsbeiträge beschäftigen sich mit der europäischen Antwort auf den Krieg in der Ukraine und seinen Auswirkungen auf die EU bzw. mit den europapolitischen Visionen, die der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz an der Karls-Universität in Prag im August 2022 präsentierte.
Im Tagungsbericht zur IEP-Jahrestagung 2022, die seit Beginn der Pandemie erstmals wieder in Präsenz stattfinden konnte, können die Paneldiskussionen über die Zukunft Europas nachgelesen werden. Der Tagungsbericht des Arbeitskreises Europäische Integration liefert eine erste Bilanz des Brexits für Deutschland und die EU.
Vom Friedensprojekt zur Sicherheitsgarantin? Das neue Schutzversprechen der Europäischen Union in Zeiten existenzieller Ungewissheit
Aline Bartenstein, Hendrik Hegemann und Oliver Merschel
Dieser Beitrag analysiert, wie und inwieweit sich in jüngeren Selbstdarstellungen der Europäischen Union (EU) als Sicherheitsgarantin ein neues Leitnarrativ europäischer Integration manifestiert. Er zeigt, dass in dem darin enthaltenen umfassenden Schutzversprechen an die europäischen Bürger:innen spezifische Konzeptionen des Selbst und einer grundlegenden Raison d'Être der EU zum Ausdruck kommen. Sicherheit wird in diesem Kontext nicht als Abwehr konkreter Gefahren für die physische Sicherheit, sondern als originärer gesellschaftlicher Wert verstanden, der ein breiteres Versprechen der Stabilität, Geborgenheit und Verlässlichkeit in als krisenhaft wahrgenommenen Zeiten enthält. Das Bild der EU als umfassende Sicherheitsgarantin stellt den Versuch dar, eine Antwort auf eine verbreitete Wahrnehmung einer oftmals diffusen Ungewissheit hinsichtlich der eigenen Fähigkeit zur Bewältigung aktueller sowie zukünftiger Herausforderungen in den europäischen Gegenwartsgesellschaften zu geben.
Ein Fenster der Gelegenheit: die französische Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022
Joachim Schild
Die Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 bot Frankreich und Präsident Emmanuel Macron die Möglichkeit, die eigene europapolitische Agenda voranzutreiben und eine euroskeptischer gewordene französische Bevölkerung von den Vorteilen der Europäischen Integration zu überzeugen. Dieser Artikel analysiert die Rolle der französischen Ratspräsidentschaft und Präsident Macrons bei der Reaktion auf den Krieg in der Ukraine, bei der Verfolgung seiner ehrgeizigen europapolitischen Agenda, die er in seiner Rede an der Sorbonne vom September 2017 dargelegt hatte, und bei der erfolgreichen Suche nach Kompromissen für eine große Zahl von Legislativvorschlägen.
Fiskalische Dominanz als Gefahr für die Europäische Zentralbank – Analysen und Empfehlungen
Friedrich Heinemann
Der Begriff der „fiskalischen Dominanz“ bezeichnet ein Regime, in dem eine Zentralbank ihre geldpolitischen Ziele nicht mehr frei verfolgen kann, weil hohe öffentliche Defizite und Schuldenstände keine konsequente Inflationsbekämpfung mehr erlauben. Diese Analyse beleuchtet, welche Indizien aktuell dafür sprechen, dass sich die Europäische Zentralbank (EZB) in Richtung dieses Regimes bewegt. Beleuchtet werden Weichenstellungen von der Euro-Schuldenkrise und Mario Draghis „whatever it takes“ bis zur Post-Pandemie-Phase und der Etablierung des permanenten „Transmission Protection Instrument“ (TPI). Das immer entschlossenere Engagement der EZB bei der Begrenzung von Zinsaufschlägen hoch verschuldeter Eurostaaten und die zögerliche Reaktion auf eine historisch hohe Inflationsrate liefern u. a. Anhaltspunkte für eine wachsende fiskalische Dominanz bei Entscheidungen der EZB. Der Beitrag leitet Empfehlungen ab, wie die EZB ihre Reputation als faktisch unabhängige Notenbank stärken könnte.
Der/die Hohe VertreterIn der Union für Außen- und Sicherheitspolitik zwischen interner Kohärenz und digitaler Diplomatie
Carolin Rüger
Mit dem Vertrag von Lissabon erfuhr die Position des:der Hohen Vertreter:in der Union für Außen- und Sicherheitspolitik ein „Upgrade“ mit dem Ziel, Sichtbarkeit und Kohärenz der EU-Außenpolitik zu erhöhen. Dieser Betrag untersucht, inwiefern Federica Mogherini, die zweite Amtsinhaberin seit Lissabon, dieser Erwartung gerecht wurde, und analysiert die thematischen Prioritäten ihrer Amtszeit. Ausgehend von einer Analyse ihrer offiziellen Erklärungen und ihrer digitalen Kommunikationsaktivitäten wird argumentiert, dass seit 2014 zumindest graduelle Verbesserungen feststellbar sind: Mogherini nutzte das Instrument der Erklärungen zwar seltener als ihre Vorgängerin Catherine Ashton, machte jedoch mehr Gebrauch von ihrem „Doppelhut“ und verfolgte zumindest in der digitalen Diplomatie einen strategischeren Ansatz als diese. Der aktuelle Hohe Vertreter und Vizepräsident der Kommission Josep Borrell setzt diesen Kurs fort und betont die zentrale Rolle der außenpolitischen Kommunikation im „Kampf der Narrative“.
Der Krieg gegen die Ukraine – eine Neuordnung Europas?
Claudia Wiesner
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt die Europäische Union (EU) in mehrfacher Hinsicht vor immense außen- sowie innenpolitische Herausforderungen. Der Krieg ist erstens im Kern ein Konflikt zwischen einem autokratischen Regime und den liberalen Demokratien Europas und der EU. Zweitens verdeutlicht und verstetigt der Krieg die Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte hin zu einer multipolaren Weltordnung. Dies bedeutet drittens, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten sich mit Blick auf ihre Verteidigungspolitik, ihre strategische Autonomie und die Erweiterungspolitik neu positionieren müssen. Viertens finden diese Neuorientierungen im Zusammenhang mit internen Herausforderungen der EU statt. Diese betreffen zum einen mangelnde Handlungs- und Steuerungsfähigkeit in Politikfeldern wie der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und zum anderen die Kontroversen um Rechtsstaatlichkeit.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit: eine Einordnung der europapolitischen Grundsatzrede des deutschen Bundeskanzlers
Julian Rappold
Am 29. August 2022 hielt Bundeskanzler Olaf Scholz an der Karls-Universität in Prag eine lang erwartete europapolitische Grundsatzrede. Sie kann als wichtiger Referenzpunkt für den künftigen europapolitischen Kurs der amtierenden Regierungskoalition nach 16 Jahren Angela Merkel betrachtet werden – und ist gleichzeitig Maßstab, an dem diese sich wird messen lassen müssen. Vor dem Hintergrund der russischen Aggression gegen die Ukraine war die Rede auch ein Versuch, die „Zeitenwende“ für die deutsche Außenpolitik zu präzisieren und auf die europäische Ebene zu übertragen. Gleichzeitig wollte Scholz der jüngsten Kritik der europäischen Partner an der deutschen Unterstützung für die Ukraine begegnen und für die europäische Einheit unter den Mitgliedstaaten werben – allerdings bleiben viele Vorbehalte bestehen.