Die Abkehr der USA von den Prinzipien der liberalen internationalen Ordnung und der transatlantischen Partnerschaft sind eine Zäsur. Dies schlägt sich in der Themenauswahl der neuen integration nieder:
Sandra Eckert setzt sich mit der europäischen Wirtschaftspolitik auseinander und diskutiert die Frage, ob die EU das Potenzial besitzt, eine geoökonomische Macht zu werden. Auch andere Beiträge beschäftigen sich mit den Auswirkungen der neuen geopolitischen Verhältnisse: Nicolai von Ondarza adressiert die Frage, ob eine Wiederannäherung des Vereinigten Königreichs an die Gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der EU möglich ist. Wiebke Stimming beschäftigt sich in der Forumssektion mit der Rolle der Ostseeregion als mögliche Impulsgeberin für die strategische Autonomie Europas.
Die angespannte geopolitische Lage verleiht auch dem Einsatz für europäische Werte neue Dringlichkeit. York Albrecht und Maria Skóra analysieren in ihrem Aufsatz die Konditionen für Rechtsstaatlichkeitsresilienz in den EU-Mitgliedstaaten und diskutieren deren Auswirkungen auf die Widerstandsfähigkeit der Demokratie. Sonja Grimm und Karin Göldner-Ebenthal analysieren verhaltensbedingte, institutionelle und strukturelle Blockaden der Demokratieförderung in der europäischen Nachbarschaft.
In der Forumssektion ist zudem die neue EU-Legislatur Thema. Eva Heidbreder beleuchtet die kommenden großen Verhandlungsfragen in der EU. Inwiefern der 2024 reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt tatsächlich eine Neuerung ist und ob er endlich Stabilität und Wachstum vereinen kann, ordnet Martin Larch ein.
Zuletzt berichtet Domenica Dreyer-Plum über eine Tagung zur Entwicklung der europäischen Rechtsgemeinschaft am 24. und 25. Oktober 2024 in Bonn.
Europäische Wirtschaftspolitik in der geopolitischen Ära: Eine geoökonomische Wende?
Sandra Eckert
Die Europäische Union (EU) steht als wichtige Akteurin der internationalen Wirtschafts- und Handelspolitik im Zeitalter der Geopolitik vor neuen Herausforderungen. Vor dem Hintergrund dieses veränderten Kontexts leistet der Artikel drei Beiträge: Erstens wird konzeptualisiert, was als geoökonomische Wende der internationalen Wirtschaftsordnung verstanden werden kann, und es wird untersucht, inwieweit die von der EU in den letzten Jahren ergriffenen politischen Maßnahmen als geoökonomisch einzustufen sind. Zweitens wird auf der Grundlage des Konzepts der politischen Macht von Unternehmen die Rolle von Wirtschaftsakteuren als Befürworter und Gegner einer Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik erörtert. Drittens wird die Frage gestellt, ob die EU, die eigentlich als Marktmacht und regelsetzende Macht verstanden wird, zu einer geoökonomischen Macht werden kann und welche Auswirkungen eine geoökonomische Wende für die EU als internationale Akteurin haben würde. Die Analyse zeigt, dass die EU seit 2017 zunehmend eine geoökonomische Agenda verfolgt, die teilweise von Wirtschaftsakteuren unterstützt wird, und dass die EU das Potenzial hat, eine geoökonomische Macht zu werden.
Ein Abschied von Dauer? Das Vereinigte Königreich und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union
Nicolai von Ondarza
Dieser Artikel untersucht die Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich (VK) und der Europäischen Union (EU) in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) nach dem Brexit. Am Ende des Brexit-Prozesses hat das VK unter Boris Johnson eine strukturierte Kooperation in diesem Bereich mit der EU abgelehnt. Der Artikel arbeitet eine komplexe Dynamik aus Desintegration, Neujustierung und vorsichtiger Annäherung und weiter bestehenden strukturellen Hürden heraus. Die Drittstaatenregeln der EU, die die Teilnahme an GSVP-Operationen, verteidigungsindustriellen Initiativen und Entscheidungsorganen begrenzen, sowie die Entscheidung des VK, eine Rückkehr zum Binnenmarkt auszuschließen, schränken die Kooperationsmöglichkeiten dauerhaft ein. Trotz des von der Labour-Regierung angestrebten Sicherheitspaktes zwischen EU und VK kommt der Artikel zu dem Schluss, dass eine Rückkehr zu einer tiefgreifenden institutionalisierten Zusammenarbeit nur unter hohen politischen Kosten möglich wäre.
Rechtsstaatsresilienz in der Praxis: Ansätze und Perspektiven aus den EU-Mitgliedstaaten
York Albrecht und Maria Skóra
Die liberale Demokratie als politisches Ordnungsmodell steht weltweit unter massivem Druck durch die Transformation von Parteiensystemen, Wirtschafts- und Wohlfahrtsstaatsmodellen sowie Disruptionen des globalen Machtgefüges. Angesichts dieser inneren und äußeren Attacken blickt die Forschung verstärkt auf die Resilienz der Rechtsstaatlichkeit als Grundbedingung liberaldemokratischer Systeme. Neben der quantitativen Erfassung der Rechtsstaatlichkeitsresilienz durch Indizes sind angesichts der vielfältigen Herausforderungen für liberaldemokratische Systeme auch konkrete Praktiken, die zu mehr Widerstandsfähigkeit der Rechtsstaatlichkeit beitragen, relevant. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es daher, die quantitative Erfassung der Rechtsstaatsqualität qualitativ zu unterfüttern. Auf Basis von länderspezifischen Berichten aus den EU-27 arbeitet der Beitrag konkrete sogenannte „Praktiken der Resilienz“ heraus, welche zur Widerstandsfähigkeit der Rechtsstaatlichkeit beitragen können.
Förderung der Demokratie in der europäischen Nachbarschaft: Analyse der verhaltensbedingten, institutionellen und strukturellen Blockaden
Sonja Grimm und Karin Göldner-Ebenthal
Die Europäische Union fördert Demokratisierung in der europäischen Nachbarschaft. Trotz dieser Politik sind diese Regionen jedoch durch Entdemokratisierung und Autokratisierung gekennzeichnet. Die Autorinnen erklären dies durch verhaltensbedingte, institutionelle und strukturelle Blockaden, die in der europäischen Nachbarschaft zu finden sind. Neue Akteure wie China und Russland bieten außerdem vielversprechende nichtdemokratische Alternativen zum liberalen Demokratiemodell. Sie koalieren mit demokratisierungsunwilligen politischen Akteuren und unterminieren damit die europäische Demokratieförderung.
Reform der europäischen Fiskalregeln: Stabilität und Wachstum endlich vereint?
Martin Larch
Die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts von 2024 verspricht nicht weniger als einen radikalen Neustart der europäischen Fiskalpolitik. Mit dem Ziel, die angespannte Schuldenlage mancher EU-Staaten in den Griff zu bekommen, setzt die Reform auf mehr Eigenverantwortung und weniger einheitliche Vorgaben durch die Europäische Union (EU). Nationale Regierungen sollen mitbestimmen, wie sie ihre Finanzziele erreichen wollen, und bekommen mehr Zeit, wenn sie Investitionen und Reformen umsetzen. Gleichzeitig bleibt die Governance-Struktur, die eine Durchsetzung der Regeln bisher erschwert hat, im Wesentlichen unverändert. Die jüngste Reform bringt Chancen, aber auch Risiken mit sich.
Die Europäische Union in der neuen Legislatur: Viele Bekannte, noch mehr Unbekannte
Eva G. Heidbreder
Die Europäische Union steht in der Wahlperiode 2024–2029 vor zahlreichen Herausforderungen. Angesichts einer drastisch veränderten globalen Ordnung haben die Spitzen der EU-Schlüsselinstitutionen ihre Agenden entsprechend ausgearbeitet. Zentrale Anliegen betreffen die dekarbonisierte Wettbewerbsfähigkeit, Innovationsförderung und Stärkung von Sicherheit, in einem sehr breiten Verständnis. Dass auf diese Ambitionen entschlossene gemeinsame Entscheidungen folgen und diese mit den notwendigen Finanzmitteln untermauet werden, ist entscheidend für die Zukunft Europas. In einer politisch immer stärker in Frage gestellten Union bleibt auf der einen Seite offen, ob die Regierungen der Mitgliedstaaten fähig sind, einen gemeinsamen politischen Willen zur Umsetzung der diversen Agenden aufzubringen. Auf der anderen Seite steht die offene Frage, wie die beginnenden Verhandlungen über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen ausgehen werden. Diese Gesamtlage stellt auch hohe Anforderungen an die innerstaatliche Politikgestaltung, die realistische Positionen definieren und vorwärtsgewandte europäischer Ziele formulieren muss, um auf europäischer Ebene notwendige Einigungen zu erreichen.
Die Ostseeregion – Impulsgeberin für die strategische Autonomie Europas?
Wiebke Stimming
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die europäische Sicherheitsarchitektur verändert, die in Mittel- und Osteuropa bis dahin undenkbare Reaktionen nach sich zogen. Die Staaten um die Ostsee reagierten aufgrund der geografischen und historischen Nähe zu Russland deutlich auf die veränderte Sicherheitslage und schlugen einen neuen Kurs ein. In Deutschland rief Bundeskanzler Olaf Scholz die sogenannte Zeitenwende in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik aus. Schweden und Finnland traten der NATO bei und Dänemark gab seine Opt-out-Klausel in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf. Damit die europäischen Staaten ihre Sicherheit auch in Zukunft garantieren können, stellt sich die Frage, welchen Impuls die Ostseeregion zur strategischen Autonomie Europas leisten kann. Dabei stehen zwei Aspekte der Autonomie im Fokus: die strategische Verteidigungsautonomie und die Resilienz der kritischen Infrastruktur. In diesem Beitrag werden Initiativen in der Ostseeregion zur Verbesserung der Autonomie beleuchtet und so das Führungspotenzial der Region auf EU-Ebene herausgestellt.