Jahrelang hat die EU um die Reform ihres Asyl- und Migrationssystems gerungen. Kurz vor Ende der Legislaturperiode haben Europäisches Parlament und Rat nun beide für den im Dezember 2023 gefundenen Kompromiss gestimmt. Die Auswirkungen der jüngsten Reformen in der Grenz- und Asylpolitik auf die Governancestruktur der EU werden im Free-Content-Beitrag untersucht. Weitere Aufsätze betrachten neue Konzepte, mit denen das politische System der EU im Kontext der sogenannten Polykrise besser erfasst werden kann. In der Forumskategorie geht es um die bevorstehenden Europawahlen, die vergangenen Parlamentswahlen in Polen sowie die Zukunftsfähigkeit der EU aus deutsch-nordisch-baltischer Perspektive. Im Tagungsbericht wird das Spinelli Forum, deutsch-italienischer Dialog für Nachwuchsführungskräfte, im November 2023 in Berlin nachgezeichnet. Im Tagungsbericht des Arbeitskreises Europäische Integration geht es um die rechtlichen Grundlagen und Instrumente der strategischen Autonomie der EU.
Governancestrukturen in der Grenz- und Asylpolitik: starke europäische Agenturen, schwache mitgliedstaatliche Souveränität
Domenica Dreyer-Plum/Natascha Zaun
Dieser Aufsatz analysiert die jüngsten Reformen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in ihrer Wirkung für die Governance-Struktur der europäischen Grenz- und Asylpolitik. Anknüpfend an den Neuen Intergouvernementalismus und den Core State Powers-Ansatz, argumentieren wir, dass die jüngsten Verordnungen Frontex und die Europäische Asylagentur deutlich gestärkt haben und damit zur Kapazitätsbildung auf europäischer Ebene erheblich beitragen. Bemerkenswert ist dabei, dass die Agenturen bereits weitgehend praktizierten, was nachträglich durch Verordnungen verrechtlicht wurde. Demgegenüber stellt das in der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung vorgeschlagene Migrationsforum eine den Strukturen nach intergouvernemental geprägte Institution dar. Vorschläge für mehr Solidarität in der Grenz- und Asylpolitik bleiben im Reformpaket vage und enthalten keine Souveränitätstransfers.
Der Beitrag ist frei zum Download verfügbar.
Ein regulatorischer Sicherheitsstaat? Herrschaftsgrundlagen und Instrumente europäischer Sicherheitspolitik
Andreas Kruck/Moritz Weiss
Europäische Sicherheitspolitik ist nach gängiger Auffassung nach wie vor die Angelegenheit des nationalen und „positiven” Staates. Im Gegensatz dazu argumentiert dieser Beitrag, dass die Europäische Union – und das sie umgebende europäische Mehrebenensystem – sich auch in vielen Bereichen der Sicherheitspolitik als regulatorischer Staat verstehen lässt. Der europäische regulatorische Sicherheitsstaat (ERSS) stützt sich auf epistemische Autorität (d.h. Expert*innen), um indirekt durch die Setzung und Durchsetzung von Regeln europäische Sicherheit(spolitik) zu produzieren. Der Beitrag erörtert, was mit einem „europäischen regulatorischen Sicherheitsstaat” konzeptuell gemeint ist und wie sich dieser empirisch manifestiert; er diskutiert, inwiefern der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die europäischen Reaktionen darauf eine Herausforderung für den ERSS darstellen; und er wägt ab, wie normativ wünschenswert – und zukunftsfähig – der ERSS ist.
Der europäische Rückversicherungsstaat
Christian Freudlsperger
Welche EU entsteht aus der Polykrise? Dieser Aufsatz vertritt die These, dass sich die EU zu einem „Rückversicherungsstaat“ entwickelt. In diesem System öffentlicher Rückversicherung bleiben die Nationalstaaten weiterhin die Direktversicherer ihrer Bürgerinnen und Bürger gegen individuelle und gesellschaftliche Risiken. Da ihre Versicherungskapazitäten jedoch durch grenzüberschreitende Krisen immer häufiger überfordert sind, schafft die EU stehende Ressourcen zur Unterstützung in Notfällen. Im Kontrast zu einer föderalstaatlichen Mitversicherung richtet sich die Rückversicherung primär an die Staaten und betrifft die Bürgerinnen und Bürger nur indirekt. Der Beitrag definiert den Begriff öffentliche Rückversicherung, stellt ihre Entstehung und Funktionsweise dar und liefert drei Beispiele aus der Polykrise (rescEU, Frontex-Grenzschutzkorps, HERA). Die Rückversicherung ist ein neuer Pfad der institutionellen Entwicklung der EU, der den regulatorischen Staat überwindet, ohne aber in Richtung positiver Föderalstaatlichkeit zu drängen.
Die Europawahl 2024 – systemische Besonderheiten, Erwartungen und die extremistische Herausforderung
Klaus Welle
Die Teilung von Macht in der föderal strukturierten Europäischen Union, die Abwesenheit fester politischer Koalitionen und der Kontrolle des Verhaltens bei Abstimmungen durch die Fraktionsführungen und die Struktur europäischer politischer Parteien als Zusammenschlüsse nationaler Parteien machen Europawahlen systemisch spezifisch. Bei der Europawahl 2024 ist das Spitzenkandidaten-System für die Präsidentschaft der Kommission zurück. Dies kann zu einer erhöhten Wahlbeteiligung beitragen und erfolgreich sein, wenn die informellen Vorbedingungen während der Nominierung eingehalten werden. In der Phase bis zur Wahl des Präsidenten der Kommission erreicht das Parlament seine größte Macht. Politische Kräfte, die die Existenzbedingungen des Systems selbst gefährden, sollten als extrem eingestuft werden. Andere Parteien sollten diesen Kräften entgegentreten.
Zukunftsfähigkeit durch Resilienz – eine deutsch-nordisch-baltische Perspektive
Leonie Kristina Trebeljahr
Die veränderte geostrategische Situation der Europäischen Union (EU) seit der Invasion Russlands der Ukraine ist für die Staaten des Ostseeraums aufgrund ihrer geografischen Nähe und ihrer gemeinsamen Geschichte mit Russland von besonderer Bedeutung. Nach Jahren der Erweiterungsmüdigkeit sehen die Mitgliedstaaten die Erweiterung der EU nun als geopolitischen Imperativ an und diskutieren den Bedarf einer vorherigen institutionellen Reform. Zusätzlich müssen EU und Mitgliedstaaten den wachsenden hybriden Herausforderungen in Form von Desinformation und wirtschaftlicher Abhängigkeit gegenübertreten. Um die Handlungsfähigkeit der EU im gegenwärtigen geopolitischen Kontext zu sichern, muss eine europäische „Zeitenwende“ Rechtsstaatlichkeit und Demokratie stärken und für wirtschaftliche Sicherheit sorgen.
Polen ist zurück – Chancen für ein polnisch-deutsches Engagement in Europa nach den Parlamentswahlen 2023
Maria Skóra
Am 15. Oktober 2023 verlor die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) bei den Parlamentswahlen ihre Mehrheit. Zwei Monate später wurde eine neue Regierung aus der Bürgerlichen Koalition, dem Dritten Weg und der Neuen Linken unter der Führung von Donald Tusk vereidigt, die eine ehrgeizige Agenda nicht nur in Bezug auf innenpolitische Themen, sondern auch zur Stärkung der Position Polens in Europa und der Welt hat. Diese Entwicklung eröffnet Wege für die Wiederbelebung der polnisch-deutschen Beziehungen und der zwischenstaatlichen Formate. Dennoch gibt es weiterhin Herausforderungen in Bezug auf die Einstellung zu bestimmten Politikbereichen auf EU-Ebene wie Migration, Klima und institutionelle Reformen.
Die Parlamentswahlen in Polen 2023 – innenpolitische Beobachtungen und außenpolitische Implikationen
Marek Prawda
Dieser Text versucht, die Ergebnisse der polnischen Parlamentswahlen vom 15. Oktober 2023 als ein Symptom für tiefere gesellschaftliche Veränderungen zu begreifen. Der Autor verteidigt die These, dass demokratische und liberale Einstellungen, unterdrückt aber in der Gesellschaft noch immer vorhanden, freigesetzt wurden. Die Erwartungen der extrem mobilisierten Wählerschaft werden für die neue Regierung eine Herausforderung sein. Weiterhin werden die Parlamentswahlen vor dem Hintergrund der Trends in der Europapolitik analysiert. Wie das Beispiel Polen zeigt, können auch unfaire Wahlen gewonnen werden. Es ist außerdem möglich, der allgemeinen Welle des Populismus etwas entgegenzuhalten. Zuletzt präsentiert der Autor mögliche Auswirkungen des politischen Wechsels in Polen auf die Situation in der Europäischen Union (EU) und die polnisch-deutschen Beziehungen. Die polnische Politik ist konfrontiert mit der Aufgabe, die „Europäische Unentbehrlichkeit” in der Union zu demonstrieren, die sich derzeit von einer Regelfabrik in eine Schicksalsgemeinschaft entwickelt.