IEP-Mittagsgespräch in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) mit MARTIN SCHULZ MdEP, Vorsitzender der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament, am 10. Dezember 2010 in der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin.
Dr. Alexander Kallweit, Leiter der Abteilung Internationaler Dialog der Friedrich-Ebert-Stiftung, begrüßte die Teilnehmer des Mittagsgesprächs und leitete über zum Thema „Europäisches Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“, auf das sich der Blick trotz aktuell anderer Themenagenda zu richten lohne.
Prof. Dr. Hartmut Marhold, Generaldirektor des Centre international de formation européenne (CIFE), hob in seiner Einführung hervor, dass das Thema für 2010 auf ein europäisches Gesellschaftsmodell verweise, nicht zuletzt sei die Thematisierung der herrschenden Armut eine Frage der Solidarität. Die Europäische Union (EU) sei zwar in der Regelsetzung spezialisiert, weise aber Defizite in der materiellen Ebene auf. Die Geschichte Europas lasse sich vor allem durch die Wirtschafts- und Währungsunion sowie den gemeinsamen Binnenmarkt als erfolgreich bezeichnen, es stelle sich jedoch die Frage in welchem Kontext der Faktor Solidarität zu erkennen sei.
Martin Schulz zog für das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung eine ernüchternde Bilanz. So hätte sich die Finanz- und Wirtschaftskrise negativ auf die Gesellschaften ausgewirkt, da sie Disparität zwischen Armen und Reichen größer werden lasse. Aus diesem Grund widersetze sich das Europäische Parlament Kürzungen im Haushalt, welche die sozialen Sicherungssysteme und die Kulturpolitik betreffen. Mit einer fraktionsübergreifenden Unterstützung würde auf diese Weise eine systematische Ausgrenzung von Menschen verhindert. Dies sei insbesondere wichtig, da die Krise zum großen Teil Menschen in Armut aber auch die Mittelstandsgesellschaft treffe. Eine Massenverarmung könne die Folge sein.
Die Abgrenzung von Menschen in Armut sei undemokratisch fuhr Schulz fort und die damit einhergehende kulturelle Ausgrenzung begünstige xenophobes Handeln von Politikern. Dies sei in vielen Ländern der EU bereits erkennbar. Deshalb müssten mehr finanzielle Mittel in den Kampf gegen Armut investiert werden. Konkret nannte Schulz Bildung, strukturelle Förderung von Vorstädten und die Bekämpfung von Kinderarmut als notwendige Maßnahmen. Die soziale Sicherung sei zwar Aufgabe der Mitgliedsstaaten, die EU habe dennoch auch in diesem Bereich Verantwortung zu übernehmen. Ein einheitlicher ökonomischer Standard werde zwar von der EU angestrebt und sei fast vorhanden, mit Blick auf den Sozialstaat sei dieser aber noch nicht erreicht. Die EU müsse daher Impulse setzen, damit die Mitgliedsstaaten ihr Handeln stärker auf diese Zielsetzung gemeinsamer sozialer Standards ausrichteten. Schließlich sei nur eine offene Gesellschaft imstande Demokratie zu bewahren.
Schulz merkte an, dass auch die Gleichstellung zwischen Männern und Frauen eine wichtige Voraussetzung in der Debatte um die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sei. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit müsse sichergestellt werden, da ansonsten Arbeitsmigration zur Aushöhlung bereits vorhandener sozialer Standards führen könne. So sei in diesem Kontext nicht zuletzt die Einführung eines europäischen Mindestlohns wichtig. Grundsätzlich sei die vertiefte Koordinierung der europäischen Wirtschaftspolitik eine der großen Herausforderungen für die EU-Mitgliedstaaten. Konkret bedeute dies, dass die EU eine europäische Wirtschaftsregierung brauche. Diese werde zwar theoretisch schon durch die Kommission gebildet, es fehle jedoch der letzte Schritt, diese Institution offiziell als Wirtschaftsregierung zu benennen und sie als solche handeln zu lassen. Auch wenn der EU momentan die Kraft für weitere große Reformen fehle, so Schulz, dürfe die Sozialpolitik dennoch nicht der Wirtschaftspolitik nachgestellt werden. Zur Verdeutlichung dieser Aussage bediente sich Schulz einer bildlichen Metapher: Träte man bei der Vertiefung der Wirtschaftspolitik auf das Gaspedal des Autos, während man gleichzeitig im Kontext der Sozialpolitik die Bremse zöge, geriete die EU ebenso wie ein Auto ins Schleudern. Umso mehr dürfe die Herausforderung, 27 verschiedene Sozialsysteme zu koordinieren, nicht in den Hintergrund rücken. Nicht zuletzt sei die erfolgreiche Vertiefung für die EU von Bedeutung, weil die Globalisierung zu einem Wettbewerb der Weltregionen führen könne, dem die EU nur als Ganzes standhalten könne. Folglich sei finanzielle Solidarität in Krisenzeiten entscheidend, da Währungspolitik ebenfalls ein Teil dieses globalen Wettbewerbs sei. Grundsätzlich dürfe nicht vergessen werden und sei positiv anzumerken, dass der Euro weiterhin eine stabile Währung sei.
Das Fehlen eines Sozialstaats könne aktuell das Protestpotential von Bürgern verschärfen. Hier dürfe auch der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Abstieg und extremistischen Reaktionen nicht verkannt werden. Es stelle sich die Frage, so Schulz, welche demokratischen Abwehrmechanismen die Mitgliedstaaten nationalistischen Tendenzen entgegen zu setzen hätten, um extremistischen Ansichten den Nährboden zu entziehen. Schulz schloss mit einem Zitat des Philosophen Edmund Burke, um diese Aussage zu verdeutlichen: „Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun“.