Jo Leinen, MdEP und Präsident der Europäischen Bewegung International (EMI) referierte am 28. Mai 2013 in der Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin zum Thema „Notwendigkeit und Reichweite einer Reform der Europäischen Union: Effizienz, Demokratie, Zusammenhalt“. Die Veranstaltung wurde von Prof. Dr. Mathias Jopp, Direktor des Instituts für Europäische Politik (IEP), moderiert.
Jo Leinen begann sein Referat mit einer Bestandsaufnahme des aktuellen Zustands der EU und verwies eingangs auf die Hintergründe der derzeitigen Krisensituation in Europa. Nachdem die europäischen Steuerzahler in den letzten fünf Jahren weit über eine Billion Euro aufgebracht hätten, um angeschlagene Banken zu retten, sei die EU auf den externen und internen Schock eines „Angriffs der Finanzmärkte“ auf den Euro nicht vorbereitet gewesen. Aus der Bankenkrise sei eine Staatsschuldenkrise geworden, weil es im EU-System an den nötigen Kompetenzen und Instrumenten gefehlt habe. Somit habe die Schulden- und Finanzkrise klar die Schwachstellen im EU-System aufgezeigt. Die Anfang der 90er Jahre gehegte Idealvorstellung einer Währungsunion sei zusammengebrochen. Diese bestand aus den drei Kernelementen (1) Europäisierung der Währungs-, aber nicht der Wirtschaftspolitik, (2) Eigenverantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten für ihre Finanzen und Verbot gegenseitiger Haushaltshilfen, und (3) unabhängige und vorrangig der Preisstabilität verpflichtete Zentralbank, der das Aufkaufen von Staatsanleihen im Krisenfall untersagt ist (no-bailout).
Die Strategie des Schuldenabbaus durch Sparpakete habe mit dem Fiskalpaket inkl. eingebauter Schuldenbremse ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Bilanz dieser Politik sei jedoch ernüchternd. Zwar gehe es Deutschland insbesondere dank seiner starken Exportwirtschaft gut, demgegenüber stünden aber viele Euroländer, die sich einer wirtschaftlichen Stagnation oder gar einer Rezession gegenübersehen, verbunden vor allem mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit. Die letzten Jahre seien gekennzeichnet vom wirtschaftlichen Niedergang Europas. Seit 2009 habe Europa ein Drittel seiner Wirtschaftskraft- und damit entscheidend an globaler Wettbewerbsfähigkeit verloren. Der Unmut der Unionsbürger darüber manifestiere sich in einer Vetrauenskrise gegenüber dem Europäischen Parlament (EP) und den europäischen Institutionen. Leinen zeigte sich sehr besorgt, dass sich der Unmut der jetzt 16 bis 17-Jährigen, die in mehreren Ländern gegen Europa auf die Straße gingen, verfestigen könnte. Zweifellos werde der Europawahlkampf im nächsten Jahr zum bisher schwierigsten.
Europa stehe derzeit am Scheideweg, an dem ein Neustart im europäischen Einigungswerk vonnöten sei. Forderungen nach einer Aufspaltung der Eurozone in einen Nord- oder einen Süd-Euro erteilte Leinen aufgrund der zu erwartenden dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Folgen – nicht zuletzt für Deutschland – eine klare Absage. Vielmehr müsse man die Lehren aus der Krise ziehen, d.h. mehr Europa wagen und insbesondere eine Wirtschafts- und Finanzunion als Pendant zur Währungsunion einrichten. Der Van Rompuy-Bericht zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion enthalte wichtige Bausteine für dringend notwendige nächste Integrationsschritte, die die „Zurückgewinnung des Primats der Politik“ und das Ende des „Primats der Spekulation“ zum Ziel hätten.
Im Folgenden skizzierte Leinen, welche Punkte bei der von ihm angemahnten stärkeren Integration Beachtung finden müssten:
- Zunächst brauche die Eurozone eine Bankenunion; an dem bereits in die Wege geleiteten Aufbau einer Bankenaufsicht und an einem europäischen Abwicklungsmechanismus führe kein Weg vorbei. Bezüglich der Notwendigkeit eines Einlagensicherungsfonds auf europäischer Ebene äußerte sich Leinen zurückhaltender – dies könne auch auf nationaler Ebene belassen werden. Darüber hinaus brauche man einen „europäischen Finanzmarkt“, um die unterschiedlichen Zinsen, die Staaten trotz Mitgliedschaft in derselben Währungsunion für ihre Staatsanleihen zahlen müssten, zu nivellieren. Zudem plädierte Leinen für die Einrichtung eines Altlastentilgungsfonds und zeigte sich sehr optimistisch, dass hiermit bei den Altschulden der Euro-Länder in Höhe von mehreren Billionen Euro signifikant Abhilfe geschaffen werden könnte. Langfristig komme man um eine Form der Vergemeinschaftung von Staatsschulden ohnehin nicht herum, im Idealfall durch die Einführung von Eurobonds. Schließlich hob Leinen auch die Notwendigkeit einer für die Ausgestaltung der Budgetpolitik verantwortlichen europäischen Haushaltsbehörde und eines europäischen Finanzministers hervor. Ginge es nach den Vorstellungen des EP, würde der Vizepräsident der Kommission diesen Posten bekleiden.
- Bei der europäischen Wirtschaftspolitik seien beispielsweise mit der Einführung des „Europäischen Semesters“ schon Fortschritte gemacht worden, allerdings reiche die Vorabkoordinierung der Wirtschaftspolitiken der EU-Mitgliedstaaten alleine nicht aus. Vielmehr müsse ein echter Wachstumspakt zur Wiederbelebung der Wirtschaft beschlossen werden. Nicht zuletzt in den Bereichen Energiesysteme, Umweltschutz und Verkehr gebe es viele Ansatzpunkte für Projekte, die durch von der Europäischen Investitionsbank aufgelegte Anleihen finanziert werden könnten. Soziale Konvergenz müsse das Ziel eines solchen Wachstumspaktes (im Sinne eines Marshallplans für Europa) sein, wobei die Einführung von Mindeststandards unerlässlich sei.
- Nach der Finanzkrise müsse auch die Demokratiekrise bewältigt-, d.h. Defizite in Transparenz und Demokratie in der EU beseitigt werden. Im Zuge der Schulden- und Finanzkrise seien die europäischen Institutionen geschwächt worden; das Machtzentrum der europäischen Politik habe sich von Brüssel und Straßburg nach Berlin und Paris verlagert. Das Europäische Parlament müsse wieder vermehrt demokratische Kontrollfunktionen übernehmen. Der Idee eines parallel zum Europäischen Parlament existierenden „Euro-Parlaments“ erteilte Leinen eine klare Absage.
- Gleichzeitig befinde sich die EU angesichts steigender Ausgaben beispielsweise beim Grenzschutz und in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bei gleichzeitiger Kürzung des EU-Haushalts in einer Finanzierungskrise. Dem von den EU-Staats- und Regierungschefs ausgehandelten Haushaltsentwurf zufolge würde die EU bis 2020 ein Defizit in Höhe von 100 Milliarden Euro haben. Es sei daher wichtig, dass das EP von seinem Vetorecht gegen den Entwurf für den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) Gebrauch gemacht habe und damit den Europagegnern, allen voran der britische Premier David Cameron, entschieden entgegengetreten sei. Grundsätzlich müsse, so Leinen, ein neues System der Finanzierung der EU gefunden werden: die EU müsse eigene Einnahmen generieren können.
Es gebe also, so Leinen zusammenfassend, einen „riesigen Reformbedarf“ auf mehreren Feldern. An Vorschlägen hierzu mangele es nicht, aber angesichts der in der EU-Reformdebatte vorherrschenden „Kakophonie“ könne der Bürger gar nicht anders, als verunsichert zu sein.
Problematisch sei vor allem, dass die Debatte stets aus nationaler Perspektive geführt werde. Um eine dringend notwendige transnationale Debatte auf europäischer Ebene anzustoßen, gebe es drei Methoden: Die ersten beiden, nämlich (1) die Einrichtung eines „Rats der Weisen“ oder (2) einer Regierungskonferenz, seien in der gegenwärtigen Lage allerdings unzureichend. Vielmehr müsse das EP zum ersten Mal sein Initiativrecht nutzen, um (3) einen europäischen Konvent einzuberufen, wie es ihn zur Erarbeitung der Grundrechtecharta und des Verfassungsvertrags bereits zweimal gegeben habe. Diesmal müsse aber von vornherein die Öffentlichkeit mitgenommen- und die Zivilgesellschaft eingebunden werden. So könne zu mehr Solidarität, mehr Demokratie und nicht zuletzt auch zu mehr Effizienz – durch Beseitigung der „zu großen“ Hürde der Einstimmigkeit – beigetragen werden.
Abschließend betonte Leinen die Notwendigkeit eines neuen Narrativs, einer neuen, überzeugenden Zielvorstellung für Europa: Wofür steht Europa? Im 20. Jahrhundert stand Europa für Frieden und Freiheit. Im 21. Jahrhundert müsse es für Stabilität und Wohlstand in der globalisierten Welt stehen.
Von: Philip Handy