Der Dauerstreit der Bundesregierung wird auf europäischer Ebene durch Enthaltungen bei Abstimmungen im Rat deutlich. Das sogenannte German Vote ist jedoch ein Phänomen, das bereits seit den 2000er Jahren zu beobachten ist. Inwiefern es sich dabei um einen deutschen Sonderfall handelt, wird im Free-Content-Beitrag untersucht. In weiteren Aufsätzen geht es um die Frage, wie die Entscheidungen des EuGH bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit (Art. 2 EUV) das EU-System beeinflussen, wie Europa mit Fluchtmigration umgeht und welche Erfolgsfaktoren europäische Städtepartnerschaften haben. In der Forumssektion werden Macrons Visionen für Europa aus der zweiten Sorbonne-Rede vor dem Hintergrund der neuen europäischen Legislaturperiode und der Neuwahlen in Frankreich betrachtet sowie das Konzept eines „Erweiterten Europäischen Rates“ als möglicher Weg, um auf das veränderte europäische Sicherheitsumfeld infolge des russischen Krieges gegen die Ukraine zu reagieren.
„The German Vote“ im Rat der Europäischen Union
Andrea Wimmel
Seit einigen Jahren bezeichnen Beamte in Brüssel Enthaltungen im Rat der Europäischen Union als „German Vote“. Entgegen dieser Zuschreibung belegt eine Auswertung aller Stimmabgaben von 2010 bis 2023, dass Mitglieder wie Polen, Ungarn und vor allem das Vereinigte Königreich öfter überstimmt worden sind. Wenn man allerdings die institutionellen und innenpolitischen Bedingungen berücksichtigt, um Nein-Stimmen und Enthaltungen zu vermeiden, schneidet Deutschland überraschend schlecht ab. Deutschland musste daher mehr Richtlinien und Verordnungen als viele andere Mitgliedstaaten ohne Zustimmung des eigenen Vertreters im Rat umsetzen und anwenden. Für die Kommission ergeben sich neue Herausforderungen, weil breitere Mehrheiten organisiert werden müssen, um Gesetzgebungsakte ohne deutsche Zustimmung über die Ziellinie zu bringen.
Die Konstitutionalisierung der Werte des Art. 2 EUV – zwischen Funktion und Axiom
Friedemann Kainer
Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den Werten des Art. 2 Vertrag über die Europäische Union und zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit markiert einen wichtigen Schritt zur Wahrung der Integrität der Europäischen Union. Darüber hinaus hat die Werterechtsprechung wiederholt eine entscheidende Rolle dabei gespielt, die Autonomie der Europäischen Rechtsordnung zu legitimieren. Sowohl der Schutz der Rechtsstaatlichkeit als auch der Vorrang des Unionsrechts können funktional gerechtfertigt werden: Die EU kann ihre Ziele nur als eine der Rechtsstaatlichkeit verpflichtete Gemeinschaft erreichen. Jedoch hat der EuGH mit seiner Entscheidung zur Rechtmäßigkeit der Konditionalitätsverordnung ein neues Narrativ entwickelt: Die in Art. 2 EUV enthaltenen Werte prägen die Identität der EU. Dadurch erhalten sie nicht nur eine besondere Stellung, sondern werden – analog zu Art. 79 Abs. 33 Grundgesetz – unveränderlich. Dies könnte der Beginn einer nicht länger nur funktionalen, sondern einer axiomatischen Legitimierung der europäischen Rechtsordnung sein, mit bedeutenden Konsequenzen für die Beziehung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten. Ob sich der EuGH mit diesem Argumentationspfad durchsetzen kann, bleibt offen.
Eine Frage der Ähnlichkeit – Umgang mit Fluchtmigration in Europa
Teresa Koloma Beck, Katharina Wuropulos und Alexia Hack
Wie Geflüchtete in Europa aufgenommen werden, hängt nicht nur davon ab, wo sie ankommen, sondern vor allem auch davon, wo sie herkommen. Dieser Beitrag diskutiert diese Disparitäten der Solidarität und fragt, worauf sie zurückzuführen sind. Grundlage ist eine kollaborative, ethnographische Forschung von 2022 und 2023 in Griechenland, der Republik Moldau und in Deutschland. Wir zeigen, dass Dynamiken der Solidarität an Vorstellungen von Ähnlichkeit orientiert sind, die in politisch und historisch eingebetteter sozialer Praxis gründen. Sie sind komplex, weil es nie nur um die Beziehung zum schutzsuchenden Anderen, sondern immer auch um das eigene Selbstverständnis geht. Deshalb sind sie nicht selten gesellschaftlich umkämpft. Vorstellungen von Ähnlichkeit befördern Solidarität, können aber auch Distanz und Ausgrenzung erzeugen. In liberalen Gesellschaften, die auf dem Bekenntnis zu universalistischen Prinzipien fußen, braucht es deshalb Korrektive der Eigendynamik von auf Ähnlichkeit gründender Solidarität.
Dead or Alive? Erfolgsbedingungen für europäische Städtepartnerschaften
Dorothee Riese, Renate Reiter, Simon Lenhart, Benjamin Gröbe und Stephan Grohs
In der politischen Praxis werden hohe Erwartungen an Städtepartnerschaften gestellt: Ursprünglich ein Instrument der Versöhnung auf dem europäischen Kontinent, sollen sie zu Zusammenhalt in Europa beitragen. Dabei lässt sich ein Wandel klassischer Partnerschaften beobachten. Sind Städtepartnerschaften ein Auslaufmodell? Wie lässt sich erfassen und erklären, ob Städtepartnerschaften „lebendig“ sind oder „einschlafen“? Auf der Grundlage von qualitativen, interviewbasierten Fallstudien in acht deutschen Städten zeichnen wir nach, was zu Erfolg oder Misserfolg von Städtepartnerschaften beiträgt. Wir identifizieren institutionelle, akteursbezogene und policy-bezogene Faktoren, die Städtepartnerschaften als Form der „horizontalen Europäisierung“ prägen.
Zwischen Sorbonne-Rede 2.0 und Neuwahlen – Macrons Visionen im Realitätstest
Sabina Hoscislawski und Funda Tekin
Am 25. April 2024 beschrieb Präsident Emmanuel Macron in seiner zweiten Sorbonne-Rede den aktuellen Zustand der Europäischen Union in drastischen Worten und präsentierte Lösungen, um Europa und sein Modell des Friedens, der Politik, der sozialen Wohlfahrt und des Wohlstands zu schützen. Sieben Jahre nach seiner ersten großen Europa-Rede an der Sorbonne zog er Bilanz und plädierte erneut leidenschaftlich für das europäische Integrationsprojekt. Die Rede muss jedoch auch vor dem Hintergrund seiner innenpolitischen Herausforderungen und der neuen europäischen Legislaturperiode verstanden werden. Dieser Artikel analysiert die Rede und die sich daraus ergebenden Implikationen für die europäische Politik.
Russlands Angriff auf Europas Sicherheitsordnung: Zeit für einen „Erweiterten Europäischen Rat“?
Ulrich Schneckener und Sebastian Schäffer
In diesem Beitrag bewerten wir die jüngste Initiative zur engeren Zusammenarbeit von Mitgliedern der Europäischen Union und Nicht-Mitgliedern: Die Europäische Politische Gemeinschaft, die auf Vorschlag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Oktober 2022 zu ihrem ersten Gipfel in Prag zusammenkam. Bei diesem neuen europäischen Club sehen wir jedoch eine Reihe von Defiziten, was die Frage aufwirft, ob dieses Format akuten wie künftigen geo- bzw. sicherheitspolitischen Herausforderungen gerecht werden und inwiefern es als ein Baustein für eine neue europäische Sicherheitsordnung genutzt werden kann. Wir skizzieren stattdessen die Idee und das Konzept eines Erweiterten Europäischen Rates als einen geeigneteren Weg, um sowohl auf das veränderte Sicherheitsumfeld angesichts des russischen Angriffskrieges als auch auf die Notwendigkeit einer institutionalisierten Zusammenarbeit mit Nicht-EU-Staaten, inklusive der schrittweisen Integration von Kandidatenländern, zu reagieren.