Der zum Download zur Verfügung stehende Volltext setzt sich mit Angela Merkels Wirken innerhalb der Europäischen Union (EU) sowie den Möglichkeiten und Grenzen deutscher Führungskraft in Europa auseinander. Beiträge über die EU-Belarus-Beziehungen und Veränderungsprozesse und Gruppenbildungen im europäischen Umgang mit China bieten Einblicke und Diskussion über die europäische Außenpolitik. Mögliche Kompetenzerweiterungen und Wahlrechtreformen der EU werden anhand der COVID-19-Pandemie und einer Analyse des Wahlsystems der EU diskutiert. Eindrücke vom 13. Deutsch-Nordisch-Baltischen Forum geben weitere Impulse für europäische Lösungen für die Herausforderungen der heutigen Zeit.
Das europapolitische Erbe Angela Merkels: Krisen, Führung, Vorbild
Lucas Schramm und Wolfgang Wessels
Angesichts zahlreicher Beiträge und anlässlich der letzten Teilnahme Angela Merkels an einer Sitzung des Europäischen Rats im Oktober 2021 behandelt dieser Beitrag das europäische Wirken und die europäischen Wirkungen der ehemaligen Bundeskanzlerin. Zudem werden die großen europapolitischen Herausforderungen und Veränderungen der Ära Merkel (2005–2021) beleuchtet und dabei kritisch die Rolle Deutschlands in den zahlreichen EU-Krisen erläutert. Mit Blick auf das Agieren Merkels stellen die Autoren die Formen, Möglichkeiten und Grenzen deutscher Führungskraft in Europa zur Diskussion. Dabei sehen sie Merkel sowohl als politische Gestalterin wie auch Getriebene von Sachzwängen. Insofern steht Merkel in der Tradition Jean Monnets, der die europäische Integration als krisengetriebenen Prozess der begrenzten, aber wirkungsmächtigen Schritte hin zu einem „Mehr“ an Europa betrachtete.
Divergenzen zwischen Zielen und Kompetenzen in der Europäischen Union: eine Analyse am Beispiel der Gesundheitspolitik in Zeiten der COVID-19-Pandemie
Christian Callies
Eine Eigentümlichkeit der europäischen Verträge besteht darin, dass der Europäischen Union Ziele und Aufgaben zugewiesen sind, denen nur eine sehr beschränkte von den Mitgliedstaaten auf die Unionsorgane übertragene Kompetenz korrespondiert. Am Beispiel der Corona-Krise wird die Problematik dieser Diskrepanz aufgezeigt und für eine Kompetenzergänzung im Bereich der Gesundheitspolitik im Hinblick auf grenzüberschreitende Pandemien argumentiert.
Eine handlungsfähigere EU für eine sicherere (östliche) Nachbarschaft – die EU-Belarus-Beziehungen
Katrin Böttger und Nicolas Butylin
Seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020 befindet sich das Land mitten in einer geopolitischen Pattsituation. Die beispiellose Gewalt gegen friedliche Demonstrant:innen, ökonomische und politische Sanktionen gegen das Regime in Minsk sowie eine orchestrierte Migrationskrise an den EU-Außengrenzen haben die Beziehungen zwischen der EU und Belarus in den letzten Monaten geprägt. In Folge der Krisen hat die EU ihre Maßnahmen gegen das Lukaschenko-Regime verschärft, um gegen die hybriden Angriffe eines autoritären Systems resistenter zu sein und die Demokratiebewegung im Land zu unterstützen. Die Grundlage des Beitrags basiert auf der Globalen Strategie der EU, die den Beziehungen zwischen der EU und ihren Nachbarstaaten einen Rahmen gibt. Darüber hinaus diskutiert der Artikel, ob die Ziele der Strategie erreicht wurden und ob eine handlungsfähigere EU als internationaler Akteur Sicherheit in ihrer östlichen Nachbarschaft generieren kann.
Gruppenbildung in der Chinapolitik der EU: Implikationen für die Kohärenz europäischer Außenpolitik
Franco Algieri und Joachim Honeck
Die Beziehungen zu China haben im Kontext der Außenpolitik der EU einen hohen Stellenwert. Sie spiegeln Stärken und Schwächen der EU als Akteur in den internationalen Beziehungen wider. Insbesondere in Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem Thema Kohärenz der europäischen Außenpolitik, kann die Chinapolitik ein dienlicher Untersuchungsgegenstand sein. Angesichts einer sich verändernden europäischen Chinapolitik werden in diesem Artikel drei Gruppen identifiziert, die für die nähere Bestimmung dieses Politikfelds von Interesse sind. Darauf aufbauend werden mögliche Auswirkungen dieser Gruppenbildung für die Fortentwicklung der europäischen Außen- und Chinapolitik aufgezeigt.
Über Visionen, Vertrauen und Werte: deutsch-nordisch-baltische Perspektiven auf die Zukunft der Europäischen Union
Minna Ålander
Seit den 2010er Jahren wird die EU etwa alle fünf Jahre von schweren Krisen heimgesucht: zuerst die Finanz- und Eurokrise, dann die Migrationskrise und der Brexit und zuletzt die COVID-19-Pandemie. Die Krisen haben ihre Spuren hinterlassen, die sich vor allem im inneren Zusammenhalt der Union und in der (fehlenden) Solidarität zwischen ihren Mitgliedstaaten bemerkbar machen. Infolgedessen werden die EU in den kommenden Jahren drei zentrale Themen prägen: das mangelnde Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, die zunehmende Wertedivergenz innerhalb der EU und das Fehlen einer gemeinsamen Vision für die Zukunft der Union. Diese Faktoren werden sich auf die bevorstehenden Verhandlungen über wichtige Gesetzesinitiativen wie den „European Green Deal“, die Digitalisierung, die Gesundheitsunion, die Neuverhandlungen der EU-Fiskalregeln, den strategischen Kompass oder auch über mögliche Vertragsänderungen im Anschluss an die Konferenz zur Zukunft Europas auswirken. Ob die EU diese Herausforderungen meistern kann, wird davon abhängen, ob die Mitgliedstaaten das Gemeinwohl der Union vor ihre nationalen Interessen stellen können.
Europäisierung der Wahlen zum Europäischen Parlament: das Tandemsystem
Jo Leinen und Friedrich Pukelsheim
Das Tandemsystem ist ein Wahlsystem für das Europäische Parlament, das die europäische Orientierung der Wahl betont. Es lädt die Europarteien ein, an der Wahl mit Elan, Sichtbarkeit und Gestaltungskraft teilzunehmen. Das Tandemsystem geht in drei Schritten vor. Im ersten Schritt werden auf Unionsebene alle Sitze den Europarteien im Verhältnis ihrer Stimmenerfolge zugeteilt. Im zweiten Schritt werden die unionsweiten Sitzzuteilungen nach Mitgliedstaat und Europartei so aufgeschlüsselt, dass jeder Mitgliedstaat sein vorher festgelegtes Sitzkontingent erhält. Im dritten Schritt werden die Sitze einer Partei in einem Mitgliedstaat den dortigen Kandidat:innen nach den bisher dort geltenden Bestimmungen zugewiesen. Mit diesem Vorgehen realisiert das Tandemsystem unionsweite Einheitlichkeit unter gleichzeitiger Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität.