Am 15. Dezember 2020 veranstaltete das Institut für Europäische Politik sein letztes digitales Mittagsgespräch des Jahres zum Thema „Eine vorläufige Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft“, die Deutschland in der zweiten Jahreshälfte 2020 innehatte. Weiterhin diente auch das Erscheinen und die Vorstellung der zweiten, vollständig überarbeiteten und aktualisierten Ausgabe des Standardwerkes des IEP „Handbuch zur deutschen Europapolitik“ als Anlass zur Diskussion.
Gunther Krichbaum, Mitglied des Bundestages und Vorsitzender des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union und Dr. Katrin Böttger, eine der beiden Direktorinnen am IEP und (Mit-)Herausgeberin des „Handbuch zur deutschen Europapolitik“, reflektierten das Wirken der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und diskutierten gemeinsam mit den Teilnehmer:innen die Herausforderungen des vergangenen Jahres.
Moderiert wurde die Veranstaltung von Prof. Dr. Mathias Jopp, Senior Advisor Internationaler Programme am Institut für Europäische Politik und (Mit-)Herausgeber des „Handbuch zur deutschen Europapolitik“. Zunächst begrüßte Dr. Funda Tekin, eine der beiden Direktorinnen am IEP die Teilnehmenden, gefolgt von einem Grußwort durch Jörg Wojahn, Leiter der Kommissionsvertretung in Berlin. Den Redebeiträgen von Gunther Krichbaum und Katrin Böttger folgte eine offene und lebhafte Diskussion, die sich vor allem auf die Zukunft der EU fokussierte.
Die Redner:innen stimmten überein, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im Angesicht der globalen Covid-19 Pandemie und der daraus resultierenden plötzlichen Herausforderungen als erfolgreich zu bewerten sei. Gleichzeitig sei sie aufgrund der Pandemie sowie wegen der Streitigkeiten bezüglich der Rechtsstaatlichkeitsklausel und des EU-Haushalts aber auch eine der schwierigsten deutschen Ratspräsidentschaften gewesen.
Den Kompromiss über die Verankerung der Rechtsstaatsmechanismus, der EU-Finanzmittel an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien knüpft, befürworteten die Gäste grundsätzlich. Gleichzeitig habe man auf schärfere Formulierungen gehofft. Deutschland habe eine substanzielle Diskussion darüber angestoßen, wie Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit durch einzelne Mitgliedsstaaten sanktioniert werden könnten. Der Beschluss sei auch für EU-Beitrittskandidaten von Bedeutung: Von diesen zu verlangen, rechtsstaatliche Grundsätze zu befolgen, die von EU-Mitgliedstaaten missachtet werden, sei argumentativ schwierig.
Mit dem Rechtsstaatsmechanismus verknüpft ist der Konflikt um den EU-Finanzhaushalt, den die EU-Mitglieder Polen und Ungarn aus Protest gegen ersteren zu blockieren drohten. Das Urteil über den letztlich beschlossenen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) und den „Next-Generation EU“ Wiederaufbaufonds fiel positiv aus: „Außergewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Maßnahmen“, so waren sich die geladenen Gäste einig. Ob mit der massiven Schuldenaufnahme der EU im Rahmen des Wiederaufbaufonds nicht der Rubikon überschritten sei, verneinten die Redner:innen. Die Maßnahmen seien rechtlich abgedeckt und eine einfache Vergabe von Krediten wäre für viele Mitgliedstaaten nicht genug gewesen. Gleichzeitig müsse man darauf achten, dass aus dieser Ausnahme kein Normalfall würde. Die modernere Gestaltung des MRF inklusive stärkerer Einbindung ökologischer Standards sei außerdem ein positives Zeichen an jüngere Generationen.
Die Fragerunde und Diskussion konzentrierten sich darauf, welche Themen während der deutschen Ratspräsidentschaft nicht genug berücksichtigt wurden, wie beispielsweise die EU-Migrationspolitik oder das Investitionsabkommen mit China, bei dem es kurz vor Jahreswechsel dann doch noch zu einer Einigung gekommen ist. Immer wieder aufgegriffen wurde auch die Konferenz zur Zukunft Europas. Die Teilnehmer:innen bekräftigten, dass eine solch wichtige Diskussion unbedingt in physischer Präsenz geführt werden müsse, die auch nationale Parlamente miteinbezieht. Obwohl der Lissaboner Vertrag Handlungsspielraum lasse, könnten manche Entwicklungen wie Naturkatastrophen oder Pandemien nicht vorhergesehen werden. Insofern könnte die Konferenz zur Zukunft Europas durchaus zu langfristigen Veränderungen wie Vertragsänderungen führen.
Insgesamt wurden der Rechtsstaatsmechanismus und der Wiederaufbaufonds, genauso wie die gemeinsame europäische Impfstrategie und die weiterhin geöffneten Grenzen als Zeichen einer europäischen Solidarität gesehen, die in der ersten Covid-19-Welle im Frühjahr 2020 noch gefehlt habe.
Das IEP bedankt sich herzlich bei Gunther Krichbaum und Katrin Böttger für die lebhafte Diskussion und bei Jörg Wohjahn für sein Grußwort.
Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland und mit der freundlichen Unterstützung des Auswärtigen Amtes, des Europe for Citizens Programme der Europäischen Union und der Otto Wolff Stiftung durchgeführt.
Autorin: Laura Worsch