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IEP-Mittagsgespräch mit Jo Leinen am 8. Juni 2009: "Die Ergebnisse der Europawahlen in der politischen und wissenschaftlichen Analyse"
08.06.2009

Am Tag nach dem Abschluss der Europawahlen 2009 präsentierten der Vorsitzende des Ausschusses für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments Jo Leinen, MdEP, und Prof. Dr. Rudolf Hrbek, Universität Tübingen, ihre Einschätzungen des Ergebnisses der EP-Wahlen.

Am Tag nach dem Abschluss der Europawahlen 2009 präsentierten der Vorsitzende des Ausschusses für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments Jo Leinen, MdEP, und Prof. Dr. Rudolf Hrbek, Universität Tübingen, ihre Einschätzungen des Ergebnisses der EP-Wahlen. Das Mittagsgespräch bot den Rahmen für eine über die schnellen Einschätzungen des Wahlabends hinausgehende Analyse. Neben möglichen Veränderungen der Arbeitsweise des Europäischen Parlaments in der kommenden Legislaturperiode und der Entwicklung der bisherigen und künftigen Wahlbeteiligung wurden insbesondere Folgen für den Reformprozess der Europäischen Union und Lehren, die für künftige Wahlen zu ziehen sind, thematisiert.

Jenseits der politischen Analyse der Mandatsverteilung im neuen Europäischen Parlament forderte Jo Leinen, MdEP, angesichts der im europaweiten Durchschnitt erneut gesunkenen Wahlbeteiligung eine Europäisierung zukünftiger Europawahlen. Die diesjährige Wahl müsse eine Zäsur darstellen. Schreite die Entwicklung so fort, bestehe die Gefahr, dass das Europäische Parlament als Institution in Mitleidenschaft gezogen werden könnte.

Als ein Problem machte Leinen das Vorhandensein von 27 verschiedenen Wahlgesetzen aus. Für diese europaweite Mindeststandards einzuführen, sei eine der Aufgaben, denen sich das Europäische Parlament in der kommenden Legislaturperiode stellen müsse. Als Weg zu einer entsprechenden Europäisierung schlug er einen neuen Konvent vor, da sich diese Methode bereits zweimal bewehrt habe. Er zeigte sich aber auch der Schwierigkeiten bewusst, dieses Ziel zu erreichen.

Ein zweiter Faktor, der den Europawahlen einen nationalen Charakter verleihe, sei das Fehlen länderübergreifender europäischer Listen. In diesem Sinne forderte Leinen, die europäischen Parteienverbünde sollten Spitzenkandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission aufstellen. Eine solche Personalisierung begünstige die Europäisierung der Wahlen.

Prof. Dr. Rudolf Hrbek verwies zu Beginn seiner Analyse des Wahlergebnisses darauf, dass Europa auch in diesem Jahr nicht im Zentrum der Wahl gestanden habe. Weder könne der Wähler über Machtfragen noch über einen politischen Richtungswechsel entscheiden. Die Parteien hätten sich im Wahlkampf nicht um klare inhaltliche Positionierung bemüht. Auch seien die Rechtsetzungsverfahren, die das kommende Europäische Parlament vom scheidenden übernehmen wird, nicht thematisiert worden. Hrbek betonte, dass das bereits infolge der ersten Direktwahl entwickelte Erklärungsmodell der „second-order elections“ auch noch heute Erklärungskraft besitzt.

Trotzdem sprach sich Hrbek dagegen aus, die Ergebnisse durchweg negativ zu bewerten. So sei es ein positives Zeichen, dass die Wahlbeteiligung in den ‚neuen’ Mitgliedstaaten im Vergleich zur vergangenen Wahl zugenommen habe. Ebenso sei es positiv zu bewerten, dass in einigen ‚alten’ Mitgliedstaaten eher Parteien gewählt worden seien, die sich kritisch aber differenziert mit der Europäischen Union auseinander setzten, als solche, die die Union ganz ablehnen.

Hrbek setzte sich weiter mit der Forderung des britischen Politologen Simon Hix, die Rolle der größten Fraktion im Europäischen Parlament zu stärken, auseinander. Hrbek argumentierte, dass ein Zugriffsrecht der Mehrheitsfraktion auf den Posten des Parlamentspräsidenten und die Vorsitzenden der zum Beispiel zehn wichtigsten Ausschüsse der Tradition des Europäischen Parlaments widerspreche. Das Parlament sei ein Laboratorium, in dem europäische Integration vorgelebt werde. Die Forderung nach stärkerer Polarisierung, wie sie auch der Vorschlag Jo Leinens zur Benennung von Spitzenkandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission beinhalte, liefe dem zu wider. Die eigentliche Konfliktlinie verlaufe nicht innerhalb des Parlaments, sondern zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat.

Abschließend zeigte sich Hrbek kritisch gegenüber dem Vorschlag, das Wahlrecht zum Europäischen Parlament in den Mitgliedstaaten durch einen Konvent zu homogenisieren. Er halte das Konventsmodell zwar prinzipiell für ein gutes Instrument, jedoch würde ein neuer Verfassungsschritt nur den Gegnern der Europäischen Union in die Hände spielen. Ein besserer Weg sei es, jetzt innerhalb der bestehenden Regeln Verfassungsgewohnheitsrechte zu stärken und dadurch Fortschritte zu erzielen.

In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum wurde sogleich die Frage aufgeworfen, welche Auswirkungen das Wahlergebnis für die Ratifikation des Vertrags von Lissabon habe. Eine am Wahlabend veröffentlichte Umfrage, der zufolge der Vertrag in Irland gegenwärtig eine Mehrheit unter den Wählern hätte, stimme auf den ersten Blick positiv.

Jo Leinen hob jedoch hervor, dass bei einem zweiten Referendum unter nochmals anderen – ernsthafteren – Umständen als einer Europawahlumfrage abgestimmt werde und sich in Irland auch die Frage der Stabilität der gegenwärtigen Regierung stelle. Unabhängig von der Entwicklung in Irland selbst habe zudem der kommende Gipfel ‚wasserdichte’ Formeln für die irischen Forderungen zu finden. So sei eine Verabschiedung irischer Belange in Form von Erklärungen unproblematisch, während Protokolle eine erneute Ratifizierung im Sinne einer Vertragsänderung notwendig machten.

Rudolf Hrbek verwies zudem darauf, dass das Ergebnis der Europawahl in Großbritannien ebenso von Bedeutung für die Zukunft des Vertrages sei. Sollte der britische Premierminister Gordon Brown zurücktreten und Neuwahlen ansetzen, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit David Cameron das Amt übernehmen. Für diesen Fall habe er aber eine erneute Abstimmung über den Lissabon-Vertrag per Referendum angekündigt, über dessen Ausgang man nicht lange sinnieren brauche.

Zur Frage von Teilnehmern, wie sich die Fraktionsbildung nach der Neukonstitution gestalten werde, verwies Rudolf Hrbek darauf, dass sich die förmlichen Vereinbarungen zwischen den Koalitionspartnern im Europäischen Parlament bisher vor allem auf die Vergabe von Posten zu Beginn der Legislaturperiode bezogen. Die Koalitionen in Abstimmungen seien dagegen meist von den jeweils anstehenden Inhalten abhängig. Mit dieser Variabilität habe das Europäische Parlament bisher gute Erfahrungen gemacht. Jo Leinen erinnerte daran, dass es bisher im Europäischen Parlament mit einer Ausnahme bei den Konservativ-Liberalen immer ‚große Koalitionen’ gegeben habe. Im kommenden Parlament werde das Arbeiten sicherlich nicht einfacher, somit sei die Koalitionsfrage auch eine Entscheidung zwischen Stabilität und Polarisierung.

Dass die Parteien des äußeren rechten Randes eine gemeinsame Fraktion bilden werden, erwartet Hrbek nicht. Dies sei in der Vergangenheit nicht gelungen und das Lager dieser Parteien sei zu stark fragmentiert, um mehr als eine ‚technische Fraktion’ zur Gewinnung zusätzlicher Ressourcen zu bilden.

Unabhängig von den kommenden Entwicklungen im Europäischen Parlament wurde in der Diskussion zudem betont, dass die europäische Politik den Bürgern näher gebracht werden und dazu das Wissen über die Europäische Union Bestandteil der politischen Bildung für alle Altersschichten sein sollte.

Über das Europagespräche Projekt: Die Europagespräche des IEP bringen Bürger:innen, Entscheidungsträger:innen, Wissenschaftler:innen und die Zivilgesellschaft zusammen, um Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Integration zu diskutieren. Damit fördern sie die europapolitische Debatte in Deutschland.

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