Zwei Tage nach der Bundestagswahl und drei Tage vor dem erneuten irischen Referendum über den Vertrag von Lissabon nannte Dr. Volker Stanzel, Politischer Direktor im Auswärtigen Amt, anlässlich eines Mittagsgesprächs des Instituts für Europäische Politik (IEP) seine Einschätzung zu einer Reihe außen- und sicherheitspolitischer Themen, die aktuell auf der Agenda deutscher und europäischer Außenpolitik stehen. Dabei richtete sich sein Interesse insbesondere auf die militärischen und zivilen Missionen, welche die EU im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) durchführt. Die Politik der EU auf dem Balkan, die EU-Russland Beziehungen, der Krieg in Afghanistan und der Aufstieg Ostasiens als neues politisches Gravitationszentrum bildeten weitere Schwerpunkte seiner Erörterungen. Anschließend diskutierte er mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des IEP-Mittagsgesprächs unter anderem über den Atomkonflikt mit dem Iran und die zukünftige Ausgestaltung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) unter den Bestimmungen des Vertrags von Lissabon.
Mit Blick auf die Wahlen zum Deutschen Bundestag am 27. September verwies Stanzel zunächst auf das hohe Maß an Kontinuität, das deutsche Außenpolitik seit Gründung der Bundesrepublik präge. Unter einem neuen Außenminister sei allenfalls eine Verschiebung in den Nuancen zu erwarten. Zudem sei bemerkenswert, dass Außenpolitik auch in diesem Wahlkampf nicht zum Streitthema geworden sei.
Mit einer Stimme sprechen
Zum Bestandteil der Kontinuität deutscher Außenpolitik zählte Stanzel die Europäische Integration sowie die GASP, in der Deutschland seit jeher ein aktiver Spieler sei. Diese aktive Teilnahme an der GASP leite sich aus dem nationalen Interesse Deutschlands und seinen Erfahrungen aus der Vergangenheit ab, die gezeigt hätten, dass die Bundesrepublik immer davon profitiert habe, wenn sie ihre Interessen in Abstimmung mit den europäischen Partnern formulierte. Den neuen EU-Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa fehle eine Erfahrung gleicher Intensität. Ihre Geschichte in der europäischen Integration sei noch zu kurz. So fehle häufig noch die Erkenntnis, dass es auch im eigenen Interesse sein kann, das nationale Interesse zunächst hinter das gesamteuropäische Interesse hintanzustellen, um im Ergebnis zu einem auch aus nationaler Sicht besseren Resultat zu kommen.
Die Erfahrung, dass die Europäische Union in ihrer Außenvertretung nur stark sein kann, wenn sie mit einer Stimme spricht, wäre nach einem positiven irischen Votum über den Vertrag von Lissabon besonders wichtig. Aus der Sicht nicht-europäischer Partner sei die Komplexität europäischer Entscheidungsstrukturen in der Außenpolitik nicht nachvollziehbar. Es liege daher im ureigenen Interesse der Union, zu mehr Kohärenz in ihrer Außenvertretung zu finden. Die Auffassung, nach einem erneuten Scheitern des Vertrages von Lissabon könne die EU weiter machen wie bisher, teilte Stanzel ausdrücklich nicht. Dazu seien die Defizite, die nach den letzten Erweiterungsrunden in außenpolitischen Entscheidungsprozessen der EU zu Tage getreten seien, zu offensichtlich.
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Am konkreten Beispiel mehrerer ESVP-Missionen illustrierte Stanzel den hohen Mehrwert europäischer Außen- und Sicherheitspolitik, der durch die Innovationen des Vertrags von Lissabon jedoch noch beträchtlich gesteigert werden könne. Mit der ESVP habe sich die EU ein völlig neues Instrument gegeben, das in der Kombination ziviler und militärischer Mittel sowohl historisch als auch im internationalen Vergleich einmalig sei. Die militärische ESVP-Operation im Tschad lege zwei interessante Aspekte offen. Zum einen stehe sie beispielhaft für das Zustandekommen solcher Missionen auf EU-Ebene: Zwei bis drei Mitgliedstaaten merken, dass eine internationale oder regionale Krise nicht von ihnen alleine bewältigt werden kann und bitten die übrigen Mitgliedstaaten um Unterstützung. Zum anderen verdeutliche die Mission im Tschad den expansiven Charakter von ESVP-Operationen. So habe mit Russland erstmals ein Nicht-EU-Staat für die Teilnahme an einer ESVP-Mission gewonnen werden können.
Die rein zivile EULEX-Mission im Kosovo zeichne sich dagegen durch ihre hohe Komplexität aus. Die Unterstützung beim Aufbau des administrativen öffentlichen Lebens umfasse neben der Polizeiausbildung auch die Ausbildung von Richtern, Staatsanwälten und Verwaltungsfachleuten. In Georgien sei das schnelle Zustandekommen der Mission bemerkenswert. Trotz der unkalkulierbaren Risiken, die sich aus der Beteiligung einer Vielzahl verschiedener Akteure ergeben hätten, sei eine Verständigung der 27 Mitgliedstaaten auf die Monitoring-Mission in Georgien in kürzester Zeit möglich gewesen. Im Ergebnis hätte sich die Mission als Erfolg erwiesen. Schließlich stelle die militärische Atalanta-Mission zur Piratenbekämpfung eine einmalige Operation dar, in deren Rahmen die EU im Konzert mit einer Vielzahl anderer Nationen agiere. Eine solche Mission setze nicht nur den Willen zur gemeinsamen Intervention voraus, sondern auch eine enge operative Koordinierung und eine Verständigung auf gemeinsame Einsatzregeln. „Atalanta“ stelle mithin eine neue, zukunftsweisendes Form internationaler Kooperation dar.
Außenpolitische Themen – Balkan, Russland, Afghanistan und Ostasien
Als erstes außenpolitisches Thema erläuterte Stanzel die Politik der Europäischen Union auf dem Balkan. Diese sei eine Erfolgsgeschichte der letzten 10 Jahre, insbesondere aber – mit Blick auf die Unabhängigkeit des Kosovo – der letzten zwei bis drei Jahre. Die Befürchtungen, welche die internationale Gemeinschaft mit der Unabhängigkeit des Kosovo verband, seien nicht eingetreten. Die Tatsache, dass es kaum Gewalttätigkeiten gegeben habe, sei maßgeblich auf den Einsatz der Europäischen Union zurückzuführen. Es sei das Interesse des Kosovo am Erhalt von Stabilität, Sicherheit, wirtschaftlichen Vorteilen und vor allem an der Perspektive auf eine Einbindung in den europäischen Integrationsprozess gewesen, die eine Eskalation verhinderte.
Die EU-Russland-Beziehungen seien auf Seiten der Europäischen Union vor allem durch Unterschiede in der Perzeption zwischen dem neuen und alten Europa gekennzeichnet. Diese unterschiedliche Wahrnehmung des russischen Nachbarn basiere auf unterschiedlichen historischen Erfahrungen. Während Westeuropa das Ende des Kalten Krieges zuvorderst auf die Entspannungspolitik zurückführe, sei der Untergang der Sowjetunion aus mittel- und osteuropäischer Sicht vor allem auf die Konfrontation mit dem ehemaligen Ostblock zurückzuführen. Beide Ansichten seien politisch legitim. Dennoch gelte es, die Perzeptionsunterschiede in der Europäischen Union allmählich zu überwinden, da Russland bei der Lösung globaler Probleme wie Terrorismus, Piraterie und Klimawandel ein unverzichtbarer Partner sei und die Union es sich nicht leisten könne, gegenüber Russland zu keiner einheitlichen Position zu finden. In Bezug auf die NATO sei es nötig, Russland davon zu überzeugen, dass das transatlantische Bündnis auch im Interesse der Sicherheit Russlands funktioniere. Die Vorschläge des russischen Präsidenten für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur wertete Stanzel als Ausgangspunkt für einen konstruktiven, in die Zukunft gerichteten Dialog mit Russland.
Mit Blick auf den Krieg in Afghanistan sprach Stanzel von einem reifen Verständnis der Deutschen für die Begründung des Einsatzes. Selbst nach dem umstrittenen Luftangriff der Bundeswehr in Kundus sei der Diskurs in Deutschland differenziert geblieben und der Afghanistan-Einsatz nicht zum Wahlkampfthema geworden. Schließlich ging Stanzel, der ab Oktober als deutscher Botschafter nach Tokio wechseln wird, auf Ostasien ein, das ein neues, eigenes Gravitationszentrum der Weltpolitik darstelle. Operativ sei diese Erkenntnis in der deutschen Außenpolitik bisher jedoch noch nicht fruchtbar geworden. Es bedürfe künftig einer eigenen Strategie, die auf diese eng verwobene und in ihrer weltpolitischen Bedeutung nicht zu unterschätzende Region eingeht.