Die Verfassung sei nicht tot – mit dieser Einschätzung eröffnete Frau Dr. Schwall-Düren, MdB, stellv. Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, das IEP-Mittagsgespräch im Jean-Monnet-Haus zum Thema „Wie weiter mit dem EU-Verfassungsprozess“. In Europa bestehe noch immer ein großes Interesse an der Umsetzung der Ziele des Verfassungsvertrages. Deshalb werde es auch zu den Prioritäten der deutschen Ratspräsidentschaft gehören, dem Verfassungsprozess neue Impulse zu geben. Zwar ließen sich die Probleme kaum in der ersten Jahreshälfte 2007 lösen, aber die Bundesregierung könne eine Art Road-Map für das weitere Vorgehen erstellen. Nach Ansicht von Schwall-Düren befindet sich die Bundesregierung jedoch in einem Dilemma: Denn einerseits wird man nur zu Lösungen kommen, wenn man intensiv mit den Partnern verschiedene Optionen bespricht, andererseits würde eine Öffentlichmachung solcher Überlegungen dazu führen, dass diese frühzeitig zerredet werden. Die Vielzahl von Vorschlägen und Überlegungen ordnete Schwall-Düren acht unterschiedlichen Modellen zu und bewertete sie knapp wie folgt:
1. Die Aufgabe des Verfassungsprojekts und eine Beschränkung auf Nizza, was angesichts der Unzulänglichkeiten des Nizza-Vertrages aber die Gefahr der Handlungsunfähigkeit in einer erweiterten Union in sich berge.
2. Die Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses mit dem Ziel, durch eine möglichst große Zahl von Ländern, in denen der Vertrag ratifiziert wurde, den Druck auf die „Zurückgebliebenen“ zu erhöhen.
3. Umfangreiche Nachverhandlungen, wobei unklar ist, ob im Vergleich zum Verfassungsvertrag ein „besseres“ Ergebnis zustande käme.
4. Die Umsetzung einzelner Reformen des Verfassungsvertrages innerhalb und unterhalb des Primärrechts (Cherry-Picking). Dies würde allerdings zum einen ähnliche Probleme nach sich ziehen wie eine umfassende Nachverhandlung. Zum anderen würde die Gefahr bestehen, dass sich hierbei vor allem die auf eine Stärkung der intergouvernementalen Elemente abzielenden Kräfte durchsetzen.
5. Die Einführung von Opt-Out-Regelungen. Allerdings seien die Ablehnungsgründe in Frankreich und den Niederlanden so unterschiedlich gewesen, dass sich wohl schwer einzelne Elemente für solche Opt-Out-Regelungen finden ließen.
6. Die Beschränkung der Verfassung auf die ersten beiden Teile, während der dritte Teil neu gefasst oder durch den Vertrag von Nizza ersetzt werden müsste. Hierbei bestehe allerdings die Gefahr, dass dies bei der Bevölkerung als „Trick“ zur Rettung der zuvor abgelehnten Verfassung verstanden und damit die Akzeptanz noch weiter schwinden würde.
7. Der Rückgriff auf das Modell des Kerneuropa. Allerdings bleibe zu fragen, ob ein solches Kerneuropa ohne Frankreich und die Niederlande überhaupt funktionieren könne.
8. Die Ergänzung der Verfassung durch ein Protokoll der nationalen und sozialen Identität, um vor allem den Bedenken in Frankreich und den Niederlanden entgegen zu kommen.
Unter Abwägung der zuvor gemachten Einwände kam Frau Schwall-Düren dabei zu dem Schluss, dass die sinnvollste Strategie eine Kombination aus der Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses (Punkt 2) und der Verabschiedung eines Protokolls der nationalen und sozialen Identität (Punkt 8) wäre, um einen Ansatzpunkt für einen erneuten Ratifizierungsanlauf in Frankreich zu erhalten.
In der anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob ein solches Protokoll nicht weitere Widerstände hervorrufen könnte, insbesondere in Großbritannien, wo es grundsätzliche andere Vorstellungen über die Rolle des Sozialstaates gibt als in Frankreich. Als weiterer Punkt wurde die Möglichkeit, einen neuen Konvent als direkt gewählte verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, in die Diskussion eingebracht. Ein anderer Vorschlag zielte auf die Ausklammerung des umfassenden und auf besondere Kritik gestoßenen dritten Teils aus dem Primärrecht und seine Einordnung als neue Rechtsmaterie entsprechend dem französischen Modell des loi organique.
Abschließend wurde allerdings darauf verwiesen, dass all diese Strategievorschläge eine Klärung der Situation in Frankreich im Hinblick auf die Wiederaufnahme des Verfassungsprozesses verlangten.