Die negativen Voten zum Verfassungsvertrag in Frankreich am 29. Mai und den Niederlanden am 1. Juni haben die Europäische Union in eine Krise gestürzt. Europaweit befinden sich die Europaskeptiker derzeit im Aufwind. Die Volksabstimmungen in beiden Gründungsstaaten haben eine breite Debatte über die Zukunft des Verfassungsvertrages in Europa ausgelöst. Wie soll es mit der Europäischen Union weitergehen und steht der Verfassungsvertrag vor dem endgültigem Aus? Fragen zu denen sich Charles Grant, Direktor des Centre for European Reform in London, im Gespräch im Redaktionsgebäude der F.A.Z. in Berlin äußerte:
Nach der Auffassung von Charles Grant hat die Ablehnung der französischen und niederländischen Bevölkerung den Verfassungsvertrag endgültig begraben. Für Jahre würde es keine weiteren Integrationsschritte geben, auch neue großen Erweiterungsrunden mit Vollmitgliedschaft sind aus seiner Sicht für lange Zeit nicht machbar. Dabei betonte er jedoch, dass der Erweiterungsprozess an sich nicht in Frage gestellt werden dürfe, da dieser für die Stabilität des europäischen Kontinents sehr wichtig sei, allerdings müsse das Ergebnis der Verhandlungen offen bleiben. In diesem Kontext sollten auch die im Oktober beginnenden Verhandlungen mit der Türkei verstanden werden.
Die Gründe für die Ablehnung der Verfassung sieht Charles Grant insbesondere darin, dass keiner der Politiker – weder in Frankreich, noch in England oder den Niederlanden – seinen Bürgern die Union plausibel erklären und die europapolitischen Neuerungen als unabdingbare Notwendigkeit und Vorteil für sein Land verkaufen könne. Gesteigert werde die Europaskepsis noch durch die schlechte wirtschaftlich Lage in einigen EU-Staaten, die dazu führe, dass die Bevölkerung in nationalistische Denkweisen zurückfällt.
Als Konsequenz der jüngsten Entwicklungen sollte die Union wieder auf die Form der zwischenstaatlichen Verträge zurückgreifen und nur bestimmte Punkte des Verfassungstextes übernehmen. Eine Neuverhandlung des Verfassungsvertrages sei nicht wünschenswert. Vielmehr sollte die Union durch einen „Mini-Treaty“ schnell die wichtigsten Errungenschaften der Verfassung in Kraft setzen, die nicht dem Votum der Bevölkerung unterstellt werden müssten. Zu diesen zählte er insbesondere die qualifizierte Mehrheit sowie Einführung des Amtes des europäischen Außenministers und des Präsidenten des Europäischen Rates.
Darüber hinaus mahnte Grant an, dass die EU trotz der Ablehnung des Verfassungsvertrages, nicht in Lethargie verfallen dürfe. Wichtige Entscheidungen stünden an, z.B. die Festlegung des europäischen Finanzrahmens 2007-2013, aber auch die europäischen Außenpolitik dürfe nicht durch unterschiedliche Standpunkte der einzelnen Staaten geschwächt werden. Für eine Lösung der Kosovoproblematik und im Streit um die Atompolitik des Iran werde eine starke und gemeinsame europäische Außenpolitik gebraucht. Gerade hier müssten insbesondere die drei großen Staaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien eng zusammenstehen und eine größere Vertrauensbasis aufbauen. Allerdings erwartet er nicht, dass diese noch zu Amtszeiten von Blair und Chirac zustande käme.
Neben der Stärkung der europäischen Außenpolitik müsse sich die EU nun auch der Lösung des aus seiner Sicht zentralen Dilemmas des 21. Jahrhunderts widmen, betonte Grant. Wie könne die EU einerseits der Notwendigkeit des freien Marktes und der Globalisierung und andererseits den Grundbedürfnissen der Bevölkerung nach sozialer Sicherung Rechnung tragen? Erst nach Beantwortung dieser Frage könnten die Menschen sich mit der Union identifizieren. Die derzeitige Debatte resultiere nicht zuletzt auch aus den nationalen schlechten Wirtschaftsdaten, die die Angst der Menschen vor offenen Märkten noch steigere. Allerdings, so Grant, wird eine gemeinsame und zufriedenstellende Lösung aller Voraussicht nach schwer erreichbar sein.
Die verschiedenen Formen der Markwirtschaft, die in den Mitgliedstaaten herrschen, wobei Großbritannien mit seinem ultraliberalistischem und Frankreich mit seinem protektionistischem Marktmodell die jeweils gegensätzlichen Pole darstellen, scheinen kurzfristig nicht überwindbar. In diesem Punkt hofft Grant, dass die Unionsmitglieder mit deutscher Unterstützung sich verstärkt dem Modell der nordeuropäischen Staaten zuwendet werden.
Für die Zukunft erwartet Charles Grant zunächst keine besonders starke Vertiefung und kein größeres internationales Gewicht der Union. Allerdings rechnet er mit der Herausbildung von verschiedenen „Kernen“ mit einem Gravitationszentrum Deutschland-Frankreich.
Katrin Pecker ist Mitarbeiterin in dem von der ASKO EUROPA-STIFTUNG und dem IEP durchgeführten Projekt: Ein Europa der Bürger – Verfassung und effiziente Politik.
[Die Veranstaltung wurde im Rahmen des Projekts „Dialog Europa“ der Otto-Wolff-Stiftung und des von der ASKO-Europa Stiftung geförderten Projekts "Von der geschriebenen zur gelebten Verfassung" durchgeführt.]