integration 2/2012
Angesichts der zunehmenden Anzahl von Stimmen, die Alternativen zum europäischen Integrationsprojekt ernsthaft diskutieren, ist das neue Heft von integration einem Themenschwerpunkt zum Wert Europas gewidmet. Der Erfolg der europäischen Integration lässt Bürger ebenso wie Wissenschaftler und Politiker schnell vergessen, welche Vorteile die Integration bietet. Nach einem einleitenden Plädoyer von Bundesaußenminister Westerwelle, Europa neu zu begründen, diskutieren namhafte Wissenschaftler die unterschiedlichen Dimensionen des Werts Europas und hinterfragen dabei so manche einfache Kosten-Nutzen-Kalkulation.
Der Wert Europas: Vier Thesen zum Zukunftsprojekt Europa
Guido Westerwelle
Das europäische Projekt durchlebt die schwerste Vertrauenskrise seiner Geschichte. Viele Menschen fragen sich, ob es gelingen wird, die Schuldenkrise zu meistern. Neue Spaltungen Europas drohen; alte Ressentiments sind zurückgekehrt. Bei einigen Nachbarn sind wieder Ängste vor einem übermächtigen Deutschland erwacht. Darüber sind Zweifel an der europäischen Idee selbst aufgekommen. In dieser Lage ist es notwendig, Europa neu zu begründen. Deshalb stellt Bundesaußenminister Guido Westerwelle in seinem Beitrag Thesen zum Wert Europas zur Debatte, als politische Gestaltungskraft im Zeitalter der Globalisierung, als Wertegemeinschaft und als Wirtschaftsmacht. Nicht-Europa, also eine Abkehr von der Integration, wäre gerade für Deutschland ein Irrweg.
Der materielle und immaterielle Wert Europas: vertragliche Verankerung, politische Vermittlung und öffentliche Wahrnehmung
Siegfried Magiera
Vor dem Hintergrund der Integrationsentwicklung seit dem Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl untersucht der Verfasser die Vernetzung zwischen dem materiellen und dem immateriellen Wert der europäischen Einigung. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass sich der Integrationsprozess zunächst auf den materiellen Wert einer wirtschaftlichen Freizügigkeit von Marktbürgern in einem Gemeinsamen Markt konzentrierte, obwohl bereits der EGKS-Vertrag auch auf die Entwicklung immaterieller Werte angelegt war. Mit dem Fortschreiten des Integrationsprozesses erweiterte sich die vertragliche Zielsetzung zunehmend um den immateriellen Wert einer grundrechtsgeschützten Unionsbürgerschaft in einer demokratischen, rechtsstaatlichen und solidarischen Verfassungsgemeinschaft.
Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: Integrationswert für Bürger und Gesellschaft, Mitgliedstaaten und Union
Peter-Christian Müller-Graff
Um den Wert von Einzelementen der europäischen Integration zu ermitteln, bedarf es der Festlegung eines Maßstabes. Der Beitrag nimmt als Bezugspunkte den Auftrag des Grundgesetzes zur Mitwirkung an der Entwicklung der Europäischen Union, die bestimmten Prinzipien verpflichtet ist, und die diesem entsprechende gemeinsame Erwartung der Mitgliedstaaten der Union im Zielartikel des Unionsvertrages: Förderung des Friedens, ihrer Werte und des Wohlergehens ihrer Völker. Anhand dieses Maßstabs wird der immaterielle Integrationswert des sogenannten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts überprüft und zu diesem Zweck der Inhalt dieses Raumkonzepts, sein Beitrag zur Leitzieltrias der Union und zur Bewältigung einzelner anstehender Herausforderungen (Demografie, Kultur und Sprache, Zivilverbindungen und solidarische Gemeinschaftsbildung) untersucht.
Der ökonomische Wert der Währungsunion: eine positive Bilanz aus deutscher Sicht
Christian Dreger
Das derzeitige wirtschaftspolitische Krisenmanagement in Europa birgt die Gefahr eines geringen Wirtschaftswachstums, das mit einer anziehenden Inflation verbunden ist. In vielen Mitgliedstaaten steigt die Arbeitslosenquote, sodass sich die Zweifel an den Vorteilen der Währungsunion mehren. Der Beitrag diskutiert die ökonomischen Kosten und Nutzen der Währungsunion aus deutscher Sicht. Zunächst wird die makroökonomische Entwicklung vor und nach der Schaffung der Währungsunion beleuchtet. Dabei stehen das realwirtschaftliche Wachstum und die Inflationsrate im Vordergrund. Die Analyse der mikro- und makroökonomischen Effekte zeigt, dass Deutschland als Niedriginflationsland zunächst Nachteile innerhalb der Währungsunion erlitten hat. In den letzten Jahren konnte Deutschland jedoch immer mehr profitieren. Dazu dürften insbesondere die Strukturreformen auf dem deutschen Arbeitsmarkt beigetragen haben.
Der Wert Europas und seine Grenzen: die EU als außenpolitische Gestaltungsmacht mit Defiziten
Ulrike Guérot
Gerade der Umgang der Europäischen Union mit den Konflikten in Libyen und Syrien deutet auf das grundlegende Problem mangelnder Kohärenz europäischer Außenpolitik, das auch durch die institutionellen Neuerungen des Vertrags von Lissabon bisher nicht behoben werden konnte. Der Beitrag untersucht vier Faktoren, die die Durchsetzung einer schlagkräftigen, einheitlichen, kohärenten und effizienten europäischen Außenpolitik behindern. Zum einen ist dies die generelle Erosion von Außenpolitik. Als zweites stehen normative Zielsetzungen und realpolitische Interessen in einem Konflikt. Daraus ergibt sich als dritte Herausforderung europäischer Außenpolitik die Gefahr des Provinzialismus. Schließlich ist zu diskutieren, wie eine pragmatische europäische Außenpolitik aussehen könnte. Eine Abkehr von der europäischen Grundidee ist nicht undenkbar. Die ungefestigte Außenpolitik könnte ihr erstes Opfer sein.
Grenzwertig: die Fortsetzung der EU-Erweiterung als Stabilitätsexport
Barbara Lippert
Die Europäische Union hat einen substanziellen Beitrag zur Neuordnung Europas nach dem Fall der Berliner Mauer geleistet. Ihr Hauptinstrument war das Angebot der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten. Mit dem Heranführungsprozess und schließlich dem Beitritt der zehn mittelosteuropäischen Länder gelang es der EU, die Werte und Standards auf denen sie gründet, auszudehnen. Von diesem Stabilitätsexport profitierte die EU selbst umfassend, politisch und wirtschaftlich. Für eine Fortsetzung der EU-Erweiterung zur Verfolgung außen- und sicherheitspolitischer Ziele findet die EU heute in ihrer östlichen Nachbarschaft äußerst schwierige Voraussetzungen vor. Vor diesem Hintergrund werden in dem Beitrag die Weiterentwicklung der Europäischen Nachbarschaftpolitik und eine Priorisierung der Vertiefung der Integrationsgemeinschaft empfohlen.
Die Grenzen des ‚Cost-of-Non-Europe‘-Narrativs: Anmerkungen zur Sinnstiftung der europäischen Integration
Daniel Göler
Nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege konnten die Eliten die europäische Bevölkerung für das Integrationsprojekt gewinnen, in dem sie die Integration als positiven Gegensatz zur Kriegs- und Gewaltherrschaft in Europa darstellten. Durch die friedensstiftende Komponente der EU, begann die Wirkkraft dieses Narrativs zu verblassen. Als neues Narrativ fand das Kosten-Nutzen-Kalkül seinen Weg in die politische Diskussion. Vor dem Hintergrund der Euro- und Schuldenkrise hinterfragt der Beitrag die Sinnhaftigkeit dieses rationalistischen Kosten-Nutzen-Narratives. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass dieses Narrativ kaum als neue ‚Meistererzählung‘ zur Begründung des Integrationsprozesses taugt. Vielmehr bedarf es einer grundlegenden Debatte über die Sinnstiftung des Integrationsprozesses, die heute wie vor 60 Jahren nicht allein ökonomisch rational, sondern vor allem auch ideell erfolgen muss.
Europa-Studien zwischen Affirmation und EU-Kritik
Timm Beichelt und Christina Ücker
Die Vielfalt europawissenschaftlicher Forschungs- und Lehransätze spiegelt einerseits die kontinuierlich wachsende Relevanz europawissenschaftlicher Wissensbestände vor dem Hintergrund tiefgreifender Transformationsprozesse in Europa wider. Andererseits entfalten sich im Rahmen der Debatte über Namen und Leistung der Forschungsrichtung wissenschafts-geschichtliche Entwicklungsstufen, die weit mehr als nur den Aufbruch monodisziplinärer Wissensorganisation symbolisieren. Kernpunkte des Aufsatzes bilden die nominelle und konzeptionelle Herausbildung des Lehr- und Forschungsfeldes, das sich mit kulturwissenschaftlichen Europa-Studien und sozialwissenschaftlichen EU-Studien in zwei unterschiedliche Richtungen entwickelt. Weiterhin wird diskutiert, dass den EU-Studien sowohl affirmative als auch kritische Tendenzen innewohnen, die beide in den letzten Jahren geschärft wurden.
ARBEITSKREIS EUROPÄISCHE INTEGRATION
Ronny Patz
EU-Desintegration? Gegenkräfte und Kriseneffekte im europäischen Integrationsprozess
Susanne Günther
Die polnische EU-Ratspräsidentschaft 2011. Bilanz eines Vorsitzes in Krisenzeiten
Bestellen Sie die integration direkt bei der Nomos Verlagsgesellschaft oder im Buchhandel.
Preise 2014: Jahresabonnement Privat (Printausgabe inkl. Onlinezugang) 65 Euro; Jahresabonnement für Studierende (Printausgabe inkl. Onlinezugang) 41 Euro; (bitte Studienbescheinigung zusenden); Jahresabonnement für Institutionen (Printausgabe inkl. Onlinezugang) 102 Euro; Einzelheft 18 Euro. Alle Preise verstehen sich inkl. MwSt. zzgl. Vertriebskosten (Vertriebskostenanteil 8,56 Euro, plus Direktbeorderungsgebühr Inland 1,61 Euro p.a.).
ISSN 0720–5120
Verlag: Nomos Verlagsgesellschaft — Waldseestr. 3–5 — 76530 Baden-Baden — Tel: +49 7221 2104–0 — Fax: +49 7221 2104–27