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IEP-Kommentar: Der Europäische Rat vom 9.–10. März 2017 und die Zukunft der flexiblen EU

Dass Perso­nal­ent­schei­dungen zu Kontro­versen im Europäi­schen Rat führen und Europa­po­litik für partei­po­li­tische Inter­essen instru­men­ta­li­siert wird, ist nicht neu. Der frühere britische Premier­mi­nister David Cameron war 2014 gegen die Nominierung Junckers und hat 2015 aus wahltak­ti­schen Überle­gungen vor den briti­schen Unter­haus­wahlen ein Referendum über den Verbleib Großbri­tan­niens in der EU mit dem bekannten negativen Ausgang angekündigt. Dass aller­dings als „Revanche“ für die Überstimmung bei einer Perso­nal­ent­scheidung des Europäi­schen Rates, die nach dem EU-Vertrag mit quali­fi­zierter Mehrheit getroffen werden kann, dann in der Folge der Konsens für die Sachent­schei­dungen dieses höchsten Gremiums der EU blockiert wird, ist ohne Beispiel. Am 9. März 2017 war nur die polnische Minis­ter­prä­si­dentin als einzige gegen die Wiederwahl ihres Lands­mannes Donald Tusk zum Präsi­denten des Europäi­schen Rates. Wie zuvor für diesen Fall angedroht hat sie in der Folge auch die vom Präsi­denten des Europäi­schen Rates zusam­men­ge­fassten Schluss­fol­ge­rungen des EU-Gipfels nicht gebilligt. Wenn die polnische Regierung aus innen­po­li­ti­schen Gründen die Blocka­de­haltung im Europäi­schen Rat nicht aufgibt, könnte die weitere Arbeit in diesem höchsten Gremium der EU erschwert werden und  Polen zusehends in die Isolation geraten.

Einige Punkte der formal gesehen unver­bind­lichen Schluss­fol­ge­rungen des Vorsit­zenden des Europäi­schen Rates sind aber äußerst inter­essant, weil sie über die nächsten wichtigen Schritte in der Wirtschafts- und Wachs­tums­po­litik, der Sicher­heits- und Vertei­di­gungs­po­litik sowie im Bereich Migration hinaus auch verfah­rens­tech­nische Zukunfts­op­tionen aufzeigen:

Erstens hat der Europäische Rat das Thema Perso­nal­ent­schei­dungen zu einem grund­sätz­lichen Diskus­si­ons­punkt für einen „späteren Zeitpunkt in diesem Jahr“ gemacht. Das könnte zu einer gesichts­wah­renden Debatte für Polen führen. Zudem wurde Donald Tusk gleich­zeitig auch wieder zum Präsident des Euro-Gipfels der Staats- und Regie­rungs­chefs der Euroländer ernannt, zu denen Polen bekanntlich nicht gehört. Und es könnte durchaus sein, dass gerade die Eurostaaten für die Fortent­wicklung der EU künftig stärker zusam­men­rücken und mehr Verant­wortung übernehmen müssen.

Zweitens kann das, was im Europäi­schen Rat nicht formell abgesegnet werden konnte und in der Sache aber richtig und wichtig ist, vom Minis­terrat mit quali­fi­zierter Mehrheit im Rahmen des Ordent­lichen Gesetz­ge­bungs­ver­fahrens beschlossen werden.

Drittens könnte nunmehr wie in den Schluss­fol­ge­rungen des Ratsprä­si­denten angedeutet der Weg frei sein für eine Verstärkte Zusam­men­arbeit (VZ) zur Einrichtung einer Europäi­schen Staats­an­walt­schaft für die grenz­über­schrei­tende Bekämpfung von Betrug zum finan­zi­ellen Nachteil der EU nach Art 86 (1) des Vertrags über die Arbeits­weise der Europäi­schen Union (AEUV). Das scheint endgültig nicht im 28er Rahmen möglich, aber 9 Staaten genügen dafür und 17 haben bereits ihr Interesse daran bekundet. Damit ist die weitere Richtung der Entwicklung einer Europäi­schen Union mit zwei oder mehreren Geschwin­dig­keiten vorge­zeichnet. In der Außen­po­litik ist eine VZ übrigens ebenfalls möglich. Aller­dings ist dort Einstim­migkeit erfor­derlich. Jedoch kann in der Vertei­di­gungs­po­litik mit quali­fi­zierter Mehrheit über eine Ständige Struk­tu­rierte Zusam­men­arbeit, auf die ebenfalls in den Schluss­fol­ge­rungen des Präsi­denten des Europäi­schen Rates verwiesen wurde, entschieden werden. Der Vertrag bietet hierfür Möglich­keiten in der Rüstungs­ko­ope­ration wie der militä­ri­schen Zusam­men­arbeit. Es liegt an den willigen Mitglied­staaten, diese Optionen zu nutzen.

Schließlich bleibt trotz aller Gipfeldra­ma­turgie zu hoffen, dass sich die polnische Regierung angesichts der kommenden Verhand­lungen über den Austritt Großbri­tan­niens aus der EU wieder in den Kreis der anderen EU-Regie­rungen einreiht. In den sich vermutlich über zwei Jahre hinzie­henden Verhand­lungen, in denen die britische Regierung sicherlich das eine oder andere Land für sich zu gewinnen versuchen wird, ist der Zusam­menhalt der verblei­benden 27 Mitglied­staaten sehr wichtig, selbst wenn am Ende auch hier wieder mit quali­fi­zierter Mehrheit über den Austritts­vertrag entschieden werden kann.

Prof. Dr. Mathias Jopp, Direktor Institut für Europäische Politik