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Mittagsgespräch mit Michael Clauß, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der EU

„Nach dem Europäi­schen Rat: Aktuelle Heraus­for­de­rungen für die deutsche Europa­po­litik mit Blick auf die EU-Ratsprä­si­dent­schaft 2020“

Am Dienstag, den 22. Oktober 2019 lud das Institut für Europäische Politik zum Mittags­ge­spräch in die Vertretung der Europäi­schen Kommission ein. Unweit des Branden­burger Tores stand folgendes Thema im Mittel­punkt der Diskussion: „Nach dem Europäi­schen Rat: Aktuelle Heraus­for­de­rungen für die deutsche Europa­po­litik mit Blick auf die EU-Ratsprä­si­dent­schaft 2020“. Dazu wurde der Ständige Vertreter der Bundes­re­publik bei der Europäi­schen Union, Botschafter Michael Clauß, einge­laden. Während des 90-minütigen Gespräches wurde auf die vergan­genen Monate zurück­ge­blickt und über die Schwer­punkt­themen der deutschen Europa­po­litik, insbe­sondere der deutschen Ratsprä­si­dent­schaft gesprochen.

Zu Beginn des Mittags­ge­spräches wurde eine Reihe von Heraus­for­de­rungen für die neu zusam­men­ge­setzten Insti­tu­tionen der Europäi­schen Union benannt. So verfügt die infor­melle große Koalition im Europäi­schen Parlament (EP) aus der Europäi­schen Volks­partei (EVP) und den Sozial­de­mo­kraten (S&D) über keine eigene Mehrheit mehr und benötigt die Unter­stützung der Liberalen „Renew Europe“ Gruppe. Zudem besteht das EP nach den Europa­wahlen 2019 zu 60 % aus neuen Parla­men­ta­riern, die alle mit dem Anspruch angetreten sind, die EU auf die eine oder andere Weise zu verändern. Die Wahl der designierten Kommis­si­ons­prä­si­dentin war deshalb mit Schwie­rig­keiten verbunden und ist äußerst knapp ausge­gangen. Allgemein ist das EP weitaus hetero­gener geworden, da die politi­schen Ränder an Stimmen gewonnen haben. Auch die neue Europäische Kommission muss sich in der Legis­la­tur­pe­riode neu finden und ihre Rolle gegenüber dem EP neu definieren.

Ein dominie­rendes Thema dieser Tage in Brüssel ist der Brexit. Dabei betonte Botschafter Clauß die Notwen­digkeit diesen möglichst bald zu klären. Der Botschafter sprach über die zukünf­tigen europäisch-briti­schen Bezie­hungen, die Verhandlung eines Freihan­dels­ab­kommens zwischen der EU und Großbri­tannien, sowie über die enge Zusam­men­arbeit in der Außen- und Sicher­heits­po­litik als zentrale Themen für die EU.

Als Priori­täten der deutschen Ratsprä­si­dent­schaft benannte Botschafter Clauß die Verhand­lungen zum Mehrjäh­rigen Finanz­rahmen (falls sie bis dahin noch andau­erten), des zukünf­tigen Verhält­nisses  zu Großbri­tannien, Klima, Migration, China und Europas Rolle in der Welt. In den Verhand­lungen zum Mehrjäh­rigen Finanz­rahmen identi­fi­zierte Botschafter Clauß die Höhe des Gesamt­vo­lumens (mit Großbri­tannien scheidet der zweit­größte Netto­zahler aus) als größten Streit­punkt. Dabei wurde deutlich, dass der Brexit die Haushalts­pla­nungen für die nächsten Jahre weiterhin verzögert. Auch die Bereiche, welche schwer­punkt­mäßig gefördert sollen, seien umstritten. So seien aus deutscher Perspektive die Themen­ge­biete Klima, künst­liche Intel­ligenz und Migration von zentraler Bedeutung. Frank­reich werde sich tradi­tionell stark für die Förderung des Agrar­sektors einsetzen. Darüber hinaus werde die Frage, inwieweit Kohäsi­ons­gelder an Rechts­staat­lich­keits­kri­terien geknüpft werden, ein wichtiges Thema in den Verhand­lungen zum MFR, so Clauß.

Ein Schwer­punkt bilde mit den großen Bereichen Klima und Digitales auch die Zukunfts­fä­higkeit der EU. Nachdem die EU-Mitglied­staaten sich nicht darauf verstän­digen konnten, die Beitritts­ver­hand­lungen mit Nordma­ze­donien und Albanien zu eröffnen, wurde die Frage erörtert, welchen Platz Europa in der Welt einnehmen könne und wie es angesichts dieser Entscheidung um seine inter­na­tionale Handlungs­fä­higkeit bestellt sei. Diese Entscheidung könne grund­le­gende Konse­quenzen für die europäische Nachbar­schaft, allen voran im Westbalkan, haben.

Ferner werde China eine gewichtige Rolle während der deutschen Ratsprä­si­dent­schaft spielen. So sei ein EU-China Gipfel unter Teilnahme aller Staats- und Regie­rungs­chefs geplant. Chinas wirtschaft­liche sowie weltpo­li­tische Rolle ist seit der Finanz­krise erheblich gewachsen. In der letzten Dekade allein habe sich die chine­sische Wirtschafts­leistung verdoppelt und China ist nach einigen Maßstäben mittler­weile die weltweit führende Wirtschafts­macht. Als Reaktion auf den wachsenden wirtschaft­lichen Einfluss Chinas, spielten Überle­gungen über eine neue europäische Indus­trie­po­litik und der Schutz von Kerntech­no­logien eine immer größere Rolle.

Beim Blick über den Atlantik stelle die zunehmend protek­tio­nis­tische Politik der USA die EU vor viele Fragen hinsichtlich ihrer Sankti­ons­re­si­lienz. Trotz der genannten Heraus­for­de­rungen biete die deutsche Ratsprä­si­dent­schaft auch viele Chancen, so Clauß.

In der anschlie­ßenden Debatte mit dem Publikum wurden die von Botschafter Clauß angeschnit­tenen Themen weiter disku­tiert. So ergaben sich Fragen zu der weiteren akade­mi­schen Zusam­men­arbeit zwischen der EU und dem Verei­nigten König­reich hinsichtlich der Koope­ration im Rahmen des Erasmus+ Programms. Des Weiteren wurden die aktuellen europäisch-türki­schen Bezie­hungen erörtert, welche unter anderem als ein Mosaik­stein der sehr komplexen EU-Außen­be­zie­hungen zu betrachten sind.

Das IEP bedankt sich herzlich bei Botschafter Clauß für die lebhafte Diskussion zu verschie­densten europa­re­le­vanten Themen, sowie bei Jörg Wojahn für sein Grußwort und seine Gastfreundschaft.

Autor: Nicolas Butylin


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