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IEP-Mittagsgespräch mit Sir Stephen Wall am 6. März 2006: Europe: “Is it crisis as usual, or is this one terminal?”

Stephen Wall, der bereits in verschie­denen briti­schen Regie­rungen wichtige europa­po­li­tische Funktionen inne hatte, unter anderem als europa­po­li­ti­scher Berater von John Major, Douglas Hurd und Tony Blair sowie als langjäh­riger Ständiger Vertreter Großbri­tan­niens bei der EU und heutiger Vorsit­zender im Bereich Public Affairs bei der Agentur Hill & Knowlton, skizzierte zunächst in einem histo­ri­schen Rückblick die Entwicklung der EU von der Feier­lichen Stutt­garter Erklärung 1983 bis zum Vertrag von Nizza. Als wichtigen Wende­punkt nannte er dabei den Vertrag von Maastricht: Anschließend sei auch unter dem Eindruck des Falls des Eisernen Vorhangs der Impetus für weitere Integra­ti­ons­schritte zurück­ge­gangen. Bereits in Amsterdam und Nizza seien deutliche Warnsi­gnale erkennbar geworden, dass zukünftige Verhand­lungen in der EU durch zuneh­mende Vertei­lungs­kämpfe unter den Mitglied­staaten erheblich erschwert würden.

Ein sehr wichtiger Einschnitt waren, so Wall, die inner­eu­ro­päi­schen Zerwürf­nisse im Vorlauf zum Irak-Krieg, die viel böses Blut hinter­lassen hätten. Das habe bereits bei der hart umkämpften Suche nach einem Nachfolger für Romano Prodi als Kommis­si­ons­prä­sident eine Rolle gespielt. Somit war der Kontext, in dem die Verhand­lungen bzw. die Ratifi­kation des Verfas­sungs­ver­trags erfolgen sollte, erheblich vorbelastet.

In der aktuellen Europa­po­litik drohe eine Renais­sance des souve­rä­nis­ti­schen Denkens. Regie­rungen kämpften selbst bei kleinsten Entschei­dungen verbissen um ihre einzel­staat­liche Inter­essen. Jüngstes Beispiel sei das Verhalten der spani­schen und franzö­si­schen Regie­rungen, die eifer­süchtig die vermeint­liche Unabhän­gigkeit natio­naler Energie­kon­zerne bewachten.

Stephen Wall warf angesichts dieser Entwick­lungen die Frage auf, wie etwas vom europäi­schen Geist der Gründungs­väter der EU wieder­belebt werden könne. Großbri­tannien werde aus seiner Sicht den dafür nötigen Drive nicht aufbringen. Denn dieser Drive müsse aus der Eurozone kommen. Der Erfolg dieser Gruppe sei essen­ziell für die weitere europäische Integration. Wall bedauerte ausdrücklich, dass sich an der abwar­tenden Haltung der briti­schen Regierung gegenüber der Wirtschafts- und Währungs­union nichts geändert habe.

Um den natio­na­lis­ti­schen Tendenzen in der EU entge­gen­treten zu können sei es von höchster Bedeutung, das Vertrauen in supra­na­tionale Insti­tu­tionen und somit insbe­sondere in die Europäische Kommission zurück­zu­ge­winnen. Dieses Vertrauen hänge vom erfolg­reichen Management der derzei­tigen wirtschaft­lichen Gesamt­si­tuation ab. Wenn es hingegen zu Rückschlägen käme, drohe die EU auf eine Art „Vereinte Nationen Europas“ zurück­zu­fallen. Das bedeute aber eine grund­le­gende Erosion des europäi­schen Integra­ti­ons­pro­zesses. Somit sei die derzeitige Krise der EU, so Wall, zwar nicht „terminal“, aber von einer „crisis as usual“ könne erst recht keine Rede sein.