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IEP-Mittagsgespräch mit Jo Leinen am 13. Mai 2014 : “Die Bedeutung der Europawahlen für die Zukunft der EU”

Das IEP-Mittags­ge­spräch zum Thema „Die Bedeutung der Europa­wahlen für die Zukunft der EU“ mit Jo Leinen, MdEP und Präsident der Europäi­schen Bewegung Inter­na­tional (EMI), fand am 13. Mai 2014 in der Vertretung des Saarlandes beim Bund statt. Moderiert wurde die Veran­staltung von Prof. Dr. Mathias Jopp, Direktor des Instituts für Europäische Politik (IEP).

Jo Leinen betonte zunächst, dass die diesjäh­rigen Wahlen zum Europäi­schen Parlament (EP) durch den Spitzen- kandi­da­ten­prozess anders seien als voraus­ge­gangene Wahlen und dass es einen tatsäch­lichen Wahlkampf gebe. Zudem hob er die Wichtigkeit dieser Wahlen hervor: die anste­henden großen Entschei­dungen in der kommenden Legis­la­tur­pe­riode sowie die zuneh­mende Verun­si­cherung und Europa-Skepsis in vielen Mitglied­staaten der EU stellten große Heraus­for­de­rungen für das nächste Parlament dar.

Leinen erklärte, dass die kommenden Europa­wahlen sowohl wichtige als auch schwierige Wahlen würden. Zunächst würden sowohl das EP und ein neuer EP-Präsident gewählt, außerdem ein neuer Kommis­si­ons­prä­sident und neue Kommissare. Zu den Spitzen­kan­di­daten Juncker und Schulz äußerte sich Leinen positiv, aufgrund ihrer Erfahrung seien beide sehr geeignet für das Amt des Kommis­si­ons­prä­si­denten. Gleich­zeitig bemän­gelte er jedoch auch, dass Juncker im Gegensatz zu seinem Konkur­renten nur ein „Plakat-Kandidat“ sei, der eigentlich nicht zur Wahl stünde. Leinen äußerte sich optimis­tisch, was den Einfluss des Parla­mentes auf die Wahl des Präsi­denten angeht. Er hoffe, das Parlament sei selbst­be­wusst genug, sich niemanden vorsetzen zu lassen. Leinen lobte die Entwick­lungen der letzten Jahre, in denen das EP an Macht gewonnen habe. 90–95% aller Gesetze könnten nur mit einem „ja“ des Parla­ments verab­schiedet werden, Handels­ab­kommen wie SWIFT und ACTA seien durch ein „nein“ des Parla­mentes bereits gestoppt worden. Jedoch fehle dem Parlament nach wie vor die Möglichkeit, selbst Geset­zes­in­itia­tiven einzu­bringen. Hinsichtlich des Wahlkampfes wünschte sich Leinen insgesamt mehr „Hitze“ und schlug vor, einen wirklichen Europa­wahl­kampf zu befördern, indem europäische Partei­en­listen entstünden.

Die Wahlen müssten, so Leinen, zu mehr Europa führen, eine Renatio­na­li­sierung hingegen berge erheb­liche Gefahren. Ein neuer Konvent zur Zukunft der EU sei vorstellbar, zu einigen Änderungen äußerte sich Leinen ganz konkret: So schlug er einen Euro-Minis­terrat vor, bestehend aus den Wirtschafts- und Finanz­mi­nistern der Euroländer, dessen Präsident auch stell­ver­tre­tender Kommis­si­ons­prä­sident werden solle. Er warnte vor einer Zersplit­terung des Parla­mentes, ein Euro-Parlament aus natio­nalen Delega­tionen sei wenig förderlich, statt­dessen solle im EP ein Euro-Ausschuss entstehen, sowie eine Haushalts­be­hörde für ein eigenes Euro-Budget. Ein Verfas­sungs­konvent solle jedoch erst nach den Wahlen in Großbri­tannien im kommenden Jahr geschaffen werden, da diese eine Weichen­stellung bezüglich eines EU-Referendums bedeu­teten. Ziel müsse sein, einfa­chere Insti­tu­tionen und mehr Bürger­be­tei­ligung zu erreichen. Vertrags­än­de­rungen seien aufgrund der obliga­to­ri­schen Übernahme von Instru­menten wie dem Fiskalpakt in die Verträge ohnehin unausweichlich.

Auf der Agenda des EP für die nächste Legis­la­tur­pe­riode stehe außerdem der Einsatz für einen Wachs­tumspakt als Ergänzung zum Fiskalpakt. Dieser sollte den Wieder­aufbau der Ökonomie, vor allem in den Krisen­ländern, zum Ziel haben. Mögliche Finan­zie­rungs­mög­lich­keiten sehe er in den Rückläufen aus dem EU-Haushalt oder den Einnahmen aus einer möglichen Finanz­trans­ak­ti­ons­steuer. Auch die Abschaffung von Steuer­oasen sowie mehr Steuer­ge­rech­tigkeit könnten zu diesem Ziel beitragen ohne gleich­zeitig die Bürger zu belasten. Zudem sei eine Europäische Indus­trie­po­litik von Bedeutung, um Innova­tionen und die „Wettbe­werbs­fä­higkeit im globalen Markt“ zu stärken. In diesem Zusam­menhang betonte Leinen auch die Bedeutung des Daten­schutzes und der digitalen Agenda: die EU sei diesbe­züglich noch auf dem Stand eines Entwick­lungs­landes und müsse im „Jahrhundert der Daten“ eine „Europäische Daten­sou­ve­rä­nität“ erreichen.

Die aktuelle Krise in der Ukraine stelle, so Leinen, einen Weckruf dar, vor allem im Hinblick auf die Abhän­gigkeit der EU von Energie­im­porten aus Russland. Der Ausbau von erneu­er­baren Energien, mehr Energie­ef­fi­zienz sowie eine bessere Vernetzung innerhalb der EU könnten die Abhän­gigkeit verringern. Die Krise müsse als Chance für mehr Zusam­menhalt gesehen werden, und Russland nach wie vor als Teil Europas. Das Instrument der Europäi­schen Nachbar­schafts­po­litik sei besonders auf gemeinsame Inter­essen, beispiel­weise im Bereich der Wirtschaft, ausge­richtet und habe ursprünglich den Bruch zwischen der EU und den östlichen Nachbarn verhindern sollen. Leinen räumte jedoch ein, dass die Idee zur Schaffung einer Eurasi­schen Union als einer Art Konkur­renz­or­ga­ni­sation überra­schend gewesen sei. Zudem betonte er, dass die EU sich auch als Werte­union verstehen müsse, die sich für Freiheit, Demokratie, Toleranz und gute Staats­führung einsetzt. Dies müsse im Zusam­menhang mit den anste­henden Wahlen noch verdeut­licht werden.

Von: Inga Wölfinger