IEP-Mittagsgespräch mit Günther Verheugen am 19. Juni 2006: “Europäische Politik für Wachstum und Beschäftigung”
Günther Verheugen, Vize-Präsident der Europäischen Kommission und Kommissar für Unternehmen und Industrie, setzte in seinem Impulsreferat im Jean-Monnet-Haus drei Schwerpunkte: die Vertiefung der EU, die wirtschaftliche Zukunft und die internationale Verantwortung der EU.Verheugen ließ keine Zweifel aufkommen, dass die EU neue und verbesserte vertragliche Grundlagen benötige, um einen institutionellen Rahmen zu schaffen, der Entscheidungsprozesse zeitnah und problemgerecht
ermöglicht. Dabei müssten partizipative und transparente Elemente stärkere Beachtung finden. Auf die inhaltlichen Herausforderungen, wie die Bewahrung der inneren Sicherheit oder den Klimawandel, müsse die EU eine Antwort geben und auch international eine aktive Rolle einnehmen können. Die weit verbreitete These, dass die gegenwärtige Vertiefungsmüdigkeit eine Reaktion auf die Erweiterung sei, wies Verheugen klar zurück: „Das Problem ist, dass die grundsätzliche Entwicklung ‘Wohin?’ auch schon vorher in der EU-15 unklar war.“Nach dem Europäischen Rat (15./16. Juni 2006) diagnostizierte er vorsichtig erste Schritte, die Krise zu überwinden und Zukunftsaufgaben anzugehen. Geplant sei ein Doppel-Rendezvous. Die Bundesregierung soll während der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 vor allen Dingen beim Agenda-Setting eine starke Rolle spielen und einen Zeitplan zur Fortsetzung des „Verfassungsprozesses“ vorschlagen. Ende 2008 und rechtzeitig vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2009 soll dieser Prozess dann abgeschlossen sein. Dabei könne aber niemand aufgrund der 2007 in Frankreich bevorstehenden Präsidentschaftswahlen von der deutschen Ratspräsidentschaft frühzeitig substantielle Ergebnisse, sondern vielmehr ein wegweisendes Prozessmanagement erwarten. Der Ratifizierungsprozess müsse fortgesetzt werden. Dennoch sei es nicht notwendig, am Namen des Vertrags „zu kleben“. Verheugen erklärte, dass es notwendig sei, die nächsten im Verfassungsvertrag angestrebten Vertiefungsschritte wie beispielsweise eine effizientere und transparente Arbeit des Ministerrats, die Reform der Zusammensetzung der Kommission und Fortschritte in der europäischen Außenpolitik möglichst bald in die Praxis umzusetzen.Mit der Diskussion um eine Vertiefung der EU werde häufig das Modell „Kerneuropa“ ins Spiel gebracht. Verheugen betonte, dass ein „Kerneuropa“, eine stärkere Zusammenarbeit weniger Mitgliedstaaten, nicht als Drohung wahrgenommen werden solle. Es bilde eine Rückfallposition, die nicht ausgeschlossen werden sollte, wenn man nicht mehr weiter komme. Ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten sei zwar nicht wirklich wünschenswert, aber eine Möglichkeit, wenn die Kraft fehle, dass alle sich beteiligten.
Die wirtschaftliche Zukunft der EU bildete den zweiten Schwerpunkt des Vortrags. Verheugen fällte ein erstes vorsichtiges Urteil über die runderneute Wachstums- und Beschäftigungsstrategie: „Die Governance-Strukturen funktionieren.“ Die Verantwortung werde akzeptiert und die Methode – Proritätensetzung – Aktionspläne — Empfehlungen der Kommission – spiele sich ein.
Die Kommission selbst lege vor allen Dingen großen Wert auf die Auswirkungen ihrer Maßnahmen zur Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs), einer modernen Industriepolitik und verbesserter Rechtsetzung („better regulation“). Staatsinterventionistischen, dirigistischen und protektionistischen Bestrebungen erteilte Verheugen allerdings eine Absage. Die Kommission sei nur für Rahmenbedingungen zuständig. Eine höhere Wachstumsrate, mehr Beschäftigung und höhere Gewinne lägen in der Verantwortung der Unternehmen. Dabei könne Politik auch nicht die durch einen ständigen Strukturwandel notwendigen Veränderungen, wie Auslagerungen oder Fusionen, kompensieren oder dafür die Verantwortung übernehmen.
Drei Ziele habe sich die Kommission für die kommende Zeit gesetzt: Im makroökonomischen Bereich stehe weiterhin die Vollendung des Binnenmarktes im Vordergrund. Die Koordinierung der Steuer- und Finanzpolitik sei ein weiteres wesentliches Element. Im mikroökonomischen Bereich liege der Schwerpunkt der Kommission auf Bürokratieabbau und besserer Rechtsetzung, so Verheugen.
Um die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu sichern, müssten jetzt qualitative Schlüsselbereiche, wie Bildung, Forschung & Entwicklung und Innovationen, gefördert werden. Es gehe eher um einen qualitativen Mehrwert als um quantitative Zuwächse. Für die Arbeitnehmer/-innen stehe deren Beschäftigungsfähigkeit im Mittelpunkt.
Verheugens Anmerkungen zur internationalen Verantwortung der EU bezogen sich vor allem auf die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik. „Die Erweiterung ist eine Win-Win-Situation“, stellte er Kritikern und Skeptikern entgegen. Selbst aus einem abwägenden Interessenkalkül komme man zu einer positiven Entscheidung. Die Erweiterung der EU um zehn Mitglieder sei ein notwendiger historischer Schritt nach der künstlichen Trennung Europas gewesen.
Zum bevorstehenden Beitritt Rumäniens und Bulgariens äußerte sich Verheugen positiv, wenngleich die Problembereiche offen zu Tage lägen. Er baue aber auf einen pädagogischen Effekt durch die Vollmitgliedschaft, der weitere Impulse für die Stärkung vonDemokratie und Rechtstaatlichkeit auslösen könne. In Hinblick auf den Westlichen Balkan betonte er die europäische Perspektive der Länder, drückte aber auch seine Überraschung darüber aus, dass der interne Reformprozess so lange dauere. Es dürfe nun keine neuen Kriterien und kurzfristig keine vorschnellen neuen Erweiterungen geben, da die letzte nun zunächst von der EU verarbeitet werden müsse. Dennoch erklärte Verheugen, dass langfristig und grundsätzlich niemand von einer EU-Mitgliedschaft ausgeschlossen werden könne.
Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) biete verschiedene Angebote zur Stärkung wirtschaftlicher und politischer Reformprozesse und zur Stabilisierung der europäischen Nachbarn. Die ENP sei im Prinzip die Anwendung einer privilegierten Partnerschaft und stelle eine Entwicklungsstufe/-phase im europäischen Integrationsprozess dar. Das Ergebnis sei hierbei allerdings offen.
Abschließend betonte Verheugen, dass die EU nur überlebensfähig sein wird, wenn sich die nationalen Eliten stärker für die EU und den Prozess der europäischen Integration engagierten. Die Dichotomie, hier der Nationalstaat, dort EU bzw. die Kommission, müsse überwunden werden.