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IEP-Mittagsgespräch mit Erweiterungskommissar Olli Rehn am 12. Juli 2005: “EU-Erweiterung nicht zum Sündenbock machen!”

Am 12. Juli 2005 fand im Jean-Monnet-Haus das IEP-Mittags­ge­spräch mit Erwei­te­rungs­kom­missar Olli Rehn zum Thema „EU enlar­gement under stress“ statt.

Erfolgs­ge­schichte Erweiterung
Eine klare Absage erteilte Rehn allen, die eine Verlang­samung oder gar einen Stopp der EU-Erwei­terung fordern. Die neuen Mitglieder und Beitritts­kan­di­daten dürften nicht zum Sündenbock der wirtschaft­lichen Malaise und der Verfas­sungs­krise in der EU werden! Demge­genüber betonte Rehn, dass die Erwei­terung in der Vergan­genheit das erfolg­reichste Instrument der EU war, um Sicherheit zu garan­tieren. Erwei­terung reflek­tiere die Essenz der Zivil­macht EU, die die Zone von Frieden und Stabi­lität, Freiheit und Demokratie über den Kontinent hin ausdehnt. Anderer­seits müssten die Sorgen, die teilweise auch in den Volks­ab­stim­mungen über die Verfassung geäußert worden sind, sehr ernst genommen werden und sich im Arbeits­pro­gramm der EU nieder­schlagen. Damit die Erfolgs­ge­schichte der Erwei­terung fortge­schrieben werden könne, hat die Kommission einen Plan entwi­ckelt, dessen Schlüs­sel­be­griffe Konso­li­dierung, Kondi­tio­na­lität und Kommu­ni­kation sind.

Die Konso­li­dierung der EU verlangt es, dass die EU über die bereits einge­gan­genen Verpflich­tungen hinaus keine neuen Beitritts­ver­sprechen an Dritt­staaten gibt. “Die Tages­ordnung der Erwei­terung stößt an ihre Grenzen.” Zugleich sandte Rehn eine klare Botschaft an Rumänien und Bulgarien, dass sie 2007 nur beitreten werden, sofern sie die Kriterien der Mitglied­schaft erfüllten. Die Defizite bei der Reform des Justiz­wesens und der Bekämpfung der Korruption müssten deshalb zügig behoben werden. Ebenso stehe die EU zu ihrem Wort, dass mit Kroatien Verhand­lungen eröffnet werden, sobald die Regierung in Zagreb in vollem Umfang mit dem Inter­na­tio­nalen Straf­ge­richtshof für das frühere Jugoslawien zusam­men­ar­beitet. Die Beitritts­per­spektive für die übrigen Länder des westlichen Balkans müsse aufrecht­erhalten werden. Im Falle der Türkei seien drei zentrale Voraus­set­zungen für die Eröffnung der Verhand­lungen zu erfüllen: Erstens die Unter­zeichnung eines Proto­kolls zur Ausdehnung des Ankara-Abkommens auf die zehn neuen Mitglied­staaten, das heißt faktisch die Anerkennung von Zypern, zweitens die Inkraft­setzung von sechs Gesetzen vor allem im Bereich des Straf­rechts und drittens die Verbes­serung der politi­schen Lage, in erster Linie die konse­quente Fortsetzung der Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter und Misshandlung.

Strikte Überwa­chung aller Beitrittskriterien
Kondi­tio­na­lität zielt darauf, im Heran­füh­rungs- und Verhand­lungs­prozess die Erfüllung der Beitritts­kri­terien, insbe­sondere die tatsäch­liche Imple­men­tierung des Besitz­standes der EU in dem Bewer­berland, strikt zu überwachen. Meßlatte blieben die Kopen­ha­gener Kriterien, zu denen auch das auf die EU bezogene Absorp­ti­ons­kri­terium gehöre. Die EU müsse auch im Zuge der nächsten Erwei­te­rungs­runden in der Lage sein, das Momentum der europäi­schen Integration beizu­be­halten. Eine Lehre aus der voran­ge­gan­genen Erwei­terung sei, dass man in den Beitritts­vertrag für Rumänien und Bulgarien besondere Schutz­klauseln eingebaut habe. Rehn ließ keinen Zweifel daran, dass er empfehlen wird, den effek­tiven Beitritt um ein Jahr zu verschieben,n wenn Defizite in zentralen Bereichen wie der Wettbe­werbs­po­litik oder der Straf­ver­folgung bei schweren Korrup­ti­ons­fällen nicht behoben worden sind.

Dialo­g­of­fensive – die Unions­bürger besser einbeziehen
Das dritte Stichwort ist Kommu­ni­kation: Zunächst soll die „Erfolgs­ge­schichte Erwei­terung“ besser kommu­ni­ziert werden. Die EU wird künftig einen inten­siven Dialog mit und zwischen den Unions­bürgern und den Bürge­rinnen und Bürgern in den Kandi­da­ten­ländern über die Perspek­tiven, aber auch über dieb Probleme und Voraus­set­zungen der Erwei­terung führen. Daran sollen sich neben den EU-Insti­tu­tionen auch die Mitglied­staaten, think tanks und andere zivil­ge­sell­schaft­lichen Einrich­tungen und Akteure betei­ligen. Rehn zeigte sich zufrieden, dass die Großerwei­terung um zehn Länder bisher reibungslos und zum allsei­tigen Vorteil verlaufen sei. Es habe bisher weder Entschei­dungs­blo­ckaden im Rat noch ernst­hafte Störungen etwa der Arbeits­märkte oder anderer Sektoren gegeben. Man wolle mit der Dialo­g­of­fensive eine Versach­li­chung der Debatte erreichen, damit der Blick wieder frei werde auf die Reali­täten und Chancen, die die Erwei­terung für eine starke Integra­ti­ons­ge­mein­schaft im Zeitalter der Globa­li­sierung bedeute. Rehn betonte in diesem Zusam­menhang, dass die Kosten der Nicht­er­wei­terung sehr viel höher sein dürften als die Kosten für einen fairen und verant­wor­tungsvoll geführten Prozess der Beitritts­ver­hand­lungen mit den aktuellen Kandidaten.

Fahrplan für Türkei-Verhand­lungen steht
Gerade mit Blick auf die Türkei stellte er die eminente strate­gische und geopo­li­tische Bedeutung der Erwei­te­rungs­po­litik heraus. Die EU habe ein nachhal­tiges Interesse an einer stabilen, demokra­ti­schen und prospe­rie­renden Türkei, die die Werte, die Rechts­normen und Standards der EU teilt. Um in diesem Sinne eine Trans­for­mation in der Türkei zu befördern sei eine glaub­würdige Beitritts­per­spektive für Ankara unerlässlich. Rehn war zuver­sichtlich, dass der Rat am Termin 3. Oktober 2005 für die Eröffnung der Verhand­lungen mit der Türkei festhält. Zur Idee einer privi­le­gierten Partner­schaft bemerkte Rehn, dass die Kommission sich in ihrer Arbeit an den politi­schen Leitlinien des Europäi­schen Rates orien­tiere. Das dort erklärte Ziel sei, mit der Türkei über den Beitritt und nicht über Alter­na­tiven zu verhandeln. Erst wenn der Europäische Rat eine andere Vorgabe mache, würde sich auch die Aufga­ben­stellung für die Kommission ändern. Rehn konze­dierte jedoch, dass die Diskussion über die privi­le­gierte Partner­schaft in politi­schen Kreisen und der Öffent­lichkeit während der nächsten Monate und mögli­cher­weise auch Jahre weiter­gehen werde. Er bezeichnete den von der Europäi­schen Kommission erarbei­teten Verhand­lungs­rahmen für die Türkei als den rigoro­sesten, der jemals Beitritts­ver­hand­lungen zugrunde gelegt worden sei. Die Kommission werde alles dafür tun, dass der Verhand­lungs­prozess trans­parent und fair verlaufe. Rehn bestä­tigte, dass der Ausgang der Verhand­lungen mit der Türkei offen sei. Dass am Ende der Beitritt doch nicht erfolgen könnte, sei prinzi­piell unter zwei Szenarien möglich: Nämlich erstens, wenn die Türkei die Beitritts­kri­terien verfehle und zweitens, aber als sehr theore­tische Möglichkeit, wenn die EU nicht ausrei­chend für die Erwei­terung vorbe­reitet sei. Letzteres, – so Rehn – müsse aber unter allen Umständen verhindert werden und zwar durch eine ausrei­chend tiefe Reform der EU!

Presse­be­richte:

“Pushing the boundaries” in Financial Times, 03/04. September 2005

“Brüssel hält an Türkei-Zeitplan fest — EU-Kommissar erwartet Zustimmung aller Staaten für Gespräche ab Oktober” in Der Tages­spiegel, 13. Juli 2005, S. 5.

“Bulgaria and Romania urged to speed reforms” in Inter­na­tional Harald Tribune, 13. Juli 2005 S.1

[Die Veran­staltung wurde im Rahmen des Dialog Europa der Otto Wolff-Stiftung in Koope­ration mit der Europäi­schen Kommission, Vertretung in Deutschland (Berlin) durchgeführt.]


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