IEP-Mittagsgespräch mit Dr. Joachim Wuermeling am 6. Juli 2006: “Vom Binnenmarkt zum Wirtschaftspatriotismus?”
Der europäische Binnenmarkt habe sich zum „Herzstück“ der europäischen Integration entwickelt und ist doch in manchen Teilen ein noch unvollendetes Großprojekt der Union, erklärte Wuermeling, Staatssekretär beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. Da der Erfolg der europäischen Integration in entscheidendem Maße von der Wohlstandsmehrung durch den gemeinsamen Markt abhänge, müsse seiner ursprünglichen Hauptzielsetzung, der Realisierung der vier Grundfreiheiten (freier Waren‑, Personen‑, und Kapitalverkehr sowie freier Verkehr von Dienstleistungen), heute wieder mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. In einer Zeit, in der die Mitgliedstaaten mit zum Teil schlechten Wirtschaftsdaten und der Angst der Bevölkerung vor der Globalisierung konfrontiert seien, werde eine volle Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes immer schwieriger. So müssten die EU-Mitgliedstaaten heute mehr denn je auf die neuen internen und externen Herausforderungen reagieren und den einheitlichen europäischen Binnenmarkt dementsprechend anpassen und gestalten. Strategische nationale Zielsetzungen wie Wirtschaftswachstum, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Sicherung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit seien schließlich eng mit dem europäischen Binnenmarkt verknüpft, betonte Wuermeling.
Aus deutscher Sicht sei der europäische Binnenmarkt ein Erfolgsprojekt. Dennoch würden positive Fakten zu wenig gewürdigt, und oftmals eher die gefühlten als realen Gefahren des gemeinsamen Marktes herausgestellt. Wuermeling nannte in diesem Zusammenhang Errungenschaften wie die Schaffung von europaweit 2,5 Millionen neuen Arbeitsplätzen, die seit 1992 allein auf die Verwirklichung des gemeinsamen Marktes zurückzuführen seien. Des weiteren hätten sich die deutschen Exporte durch den europäischen Binnenmarkt in den letzten 10 Jahren verdoppelt. Speziell die Osterweiterung brachte für Deutschland einen Exportschub. Allein im ersten Quartal 2006 steigerte sich der grenzüberschreitende Warenaustausch mit diesen Ländern laut einer Studie des Statistischen Bundesamtes um 27 Prozent. Darüber hinaus bedeute die weitere Liberalisierung der nationalen Märkte Kostenersparnisse für Unternehmen und Konsumenten, erklärte Wuermeling. Vorteile ergäben sich für die Verbraucher durch die mit dem stärkeren Wettbewerb verbundenen Preissenkungen im Bereich Telekommunikation oder Radioangebot und seien zukünftig auch bei der Gas- und Energieversorgung angestrebt. Auch für mittelständische Unternehmen bringe der grenzüberschreitende Handel große wirtschaftliche Vorteile. Für diese Wirtschaftsakteure erwiese sich allerdings „versteckter Wirtschaftspatriotismus“ als besonders schädigend. So erschwerten die Behinderung der Personen‑, Dienstleistungs- oder Warenfreizügigkeit sowie die oftmals komplizierten Antragsverfahren kleinen und mittelständischen Unternehmen ein grenzüberschreitendes Tätigwerden. Diese und weitere Fragen wolle die deutsche Bundesregierung im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr thematisieren. Zu diesem Zweck werde ein „Papier zur Binnenmarktstrategie“ vorbereitet, so Wuermeling.
Während der Zielsetzung eines gemeinsamen Markts in den 1980er und 1990er Jahren kaum Kritik aus den EG/EU-Mitgliedstaaten entgegen gebracht wurde, sei die Ausgangslage für seine Weiterentwicklung heute weitaus schwieriger. Wuermeling bedauerte, dass Binnenmarktpolitik aktuell in erster Linie als Überregulierung verstanden würde und dass die Mitgliedstaaten darüber hinaus zu Protektionismus und dem „süßen Gift“ des sogenannten Wirtschaftspatriotismus neigten. Eine der Aufgaben der Bundesregierung sei es deshalb, eine bessere Rechtsetzung und Bürokratieabbau zu fördern sowie möglichst nationale Interventionen bei Unternehmensfusionen zu verhindern. Die Bildung europäischer „Champions“ sei eine erfreuliche, notwendige Spätfolge des europäischen Binnenmarktes.
Wuermeling erklärte, dass der europäische Binnenmarkt die Konkurrenz der Unternehmen innerhalb der Union stärke und sie damit optimal für den globalen Wettbewerb vorbereite. Diese Dynamik könne eine gemeinsame europäische Antwort auf die Globalisierung sein. Folglich betrachtete Wuermeling eine stärkere Beachtung der globalen Märkte bei der Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarktes als entscheidend. Der gemeinsame Markt könne weiterhin nur ein attraktiver Standort für ausländische Investitionen bleiben, wenn bürokratische Belastungen für europäische Unternehmen abgebaut und alle Regelungen, wie beispielsweise das europäische Beihilferecht, auf ihre Wettbewerbstauglichkeit in globaler Hinsicht überprüft würden.
Abschließend betonte Wuermeling, dass der europäische Binnenmarkt keiner vollständigen Harmonisierung bedürfe, weder im Bereich Umwelt- und Verbraucherschutz noch bei Steuerregelungen oder in der Sozialpolitik. Die Unterschiedlichkeit der nationalen Bedingungen und die damit verbundene europaweite Konkurrenzsituation sei gewünscht und ein „großer Trumpf“ des gemeinsamen Marktes.
[Die Veranstaltung wurde im Rahmen des „Dialog Europa“ der Otto Wolff-Stiftung und mit Unterstützung der ASKO-EUROPA Stiftung durchgeführt.]