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IEP-Mittagsgespräch mit Dr. Angelica Schwall-Düren am 10. Mai 2006: “Wie weiter mit dem EU-Verfassungsprozess?”

Die Verfassung sei nicht tot – mit dieser Einschätzung eröffnete Frau Dr. Schwall-Düren, MdB, stellv. Vorsit­zende der  SPD-Bundes­tags­fraktion, das IEP-Mittags­ge­spräch im Jean-Monnet-Haus zum Thema „Wie weiter mit dem EU-Verfas­sungs­prozess“. In Europa bestehe noch immer ein großes Interesse an der Umsetzung der Ziele des Verfas­sungs­ver­trages. Deshalb werde es auch zu den Priori­täten der deutschen Ratsprä­si­dent­schaft gehören, dem Verfas­sungs­prozess neue Impulse zu geben. Zwar ließen sich die Probleme kaum in der ersten Jahres­hälfte 2007 lösen, aber die Bundes­re­gierung könne eine Art Road-Map für das weitere Vorgehen erstellen. Nach Ansicht von Schwall-Düren befindet sich die Bundes­re­gierung jedoch in einem Dilemma: Denn einer­seits wird man nur zu Lösungen kommen, wenn man intensiv mit den Partnern verschiedene Optionen bespricht, anderer­seits würde eine Öffent­lich­ma­chung solcher Überle­gungen dazu führen, dass diese frühzeitig zerredet werden. Die Vielzahl von Vorschlägen und Überle­gungen ordnete Schwall-Düren acht unter­schied­lichen Modellen zu und bewertete sie knapp wie folgt:

1. Die Aufgabe des Verfas­sungs­pro­jekts und eine Beschränkung auf Nizza, was angesichts der Unzuläng­lich­keiten des Nizza-Vertrages aber die Gefahr der Handlungs­un­fä­higkeit in einer erwei­terten Union in sich berge.

2. Die Fortsetzung des Ratifi­zie­rungs­pro­zesses mit dem Ziel, durch eine möglichst große Zahl von Ländern, in denen der Vertrag ratifi­ziert wurde, den Druck auf die „Zurück­ge­blie­benen“ zu erhöhen.

3. Umfang­reiche Nachver­hand­lungen, wobei unklar ist, ob im Vergleich zum Verfas­sungs­vertrag ein „besseres“ Ergebnis zustande käme.

4. Die Umsetzung einzelner Reformen des Verfas­sungs­ver­trages innerhalb und unterhalb des Primär­rechts (Cherry-Picking). Dies würde aller­dings zum einen ähnliche Probleme nach sich ziehen wie eine umfas­sende Nachver­handlung. Zum anderen würde die Gefahr bestehen, dass sich hierbei vor allem die auf eine Stärkung der inter­gou­ver­ne­men­talen Elemente abzie­lenden Kräfte durchsetzen.

5. Die Einführung von Opt-Out-Regelungen. Aller­dings seien die Ableh­nungs­gründe in Frank­reich und den Nieder­landen so unter­schiedlich gewesen, dass sich wohl schwer einzelne Elemente für solche Opt-Out-Regelungen finden ließen.

6. Die Beschränkung der Verfassung auf die ersten beiden Teile, während der dritte Teil neu gefasst oder durch den Vertrag von Nizza ersetzt werden müsste. Hierbei bestehe aller­dings die Gefahr, dass dies bei der Bevöl­kerung als „Trick“ zur Rettung der zuvor abgelehnten Verfassung verstanden und damit die Akzeptanz noch weiter schwinden würde.

7. Der Rückgriff auf das Modell des Kerneuropa. Aller­dings bleibe zu fragen, ob ein solches Kerneuropa ohne Frank­reich und die Nieder­lande überhaupt funktio­nieren könne.

8. Die Ergänzung der Verfassung durch ein Protokoll der natio­nalen und sozialen Identität, um vor allem den Bedenken in Frank­reich und den Nieder­landen entgegen zu kommen.

Unter Abwägung der zuvor gemachten Einwände kam Frau Schwall-Düren dabei zu dem Schluss, dass die sinnvollste Strategie eine Kombi­nation aus der Fortsetzung des Ratifi­zie­rungs­pro­zesses (Punkt 2) und der Verab­schiedung eines Proto­kolls der natio­nalen und sozialen Identität (Punkt 8) wäre, um einen Ansatz­punkt für einen erneuten Ratifi­zie­rungs­anlauf in Frank­reich zu erhalten.

In der anschlie­ßenden Diskussion wurde die Frage aufge­worfen, ob ein solches Protokoll nicht weitere Wider­stände hervor­rufen könnte, insbe­sondere in Großbri­tannien, wo es grund­sätz­liche andere Vorstel­lungen über die Rolle des Sozial­staates gibt als in Frank­reich. Als weiterer Punkt wurde die Möglichkeit, einen neuen Konvent als direkt gewählte verfas­sungs­ge­bende Versammlung einzu­be­rufen, in die Diskussion einge­bracht. Ein anderer Vorschlag zielte auf die Ausklam­merung des umfas­senden und auf besondere Kritik gesto­ßenen dritten Teils aus dem Primär­recht und seine Einordnung als neue Rechts­ma­terie entspre­chend dem franzö­si­schen Modell des loi organique.

Abschließend wurde aller­dings darauf verwiesen, dass all diese Strate­gie­vor­schläge eine Klärung der Situation in Frank­reich im Hinblick auf die Wieder­auf­nahme des Verfas­sungs­pro­zesses verlangten.