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Europapolitisches Kolloquium mit Dr. Michaele Schreyer am 22. März 2004: “Finanzplanung der erweiterten Union 2007 – 2013”

Europa­po­li­ti­sches Kollo­quium des Instituts für Europäische Politik in Zusam­men­arbeit mit der Vertretung des Freistaates Bayern beim Bund, 22. März 2004, 11.30 Uhr, Bayerische Vertretung, Berlin-Mitte mit Dr. Michaele Schreyer, Mitglied der Europäi­schen Kommission und Eberhard Sinner, Bayeri­scher Staats­mi­nister für Europa­an­ge­le­gen­heiten und Inter­na­tionale Beziehungen

Begrüßung: Dr. Friedrich Wilhelm Rothen­pieler, Bevoll­mäch­tigter des Freistaates Bayern beim Bund
Diskus­si­ons­leitung: Dr. Mathias Jopp, Direktor, Institut für Europäische Politik

Das europa­po­li­tische Kollo­quium eröffnete Kommis­sarin Schreyer mit einem Blick auf die beiden zentralen Heraus­for­de­rungen des europa­po­li­tisch entschei­denden Jahres 2004: Zum 1. Mai 2004, also in 39 Tagen, wachse die Europäische Union von 15 auf 25 Mitglied­staaten. Nach dieser histo­ri­schen Erwei­terung, die die Wieder­ver­ei­nigung des Konti­nents bedeute, werde die Union mit 454 Mio. Bürge­rinnen und Bürgern der größte Wirtschafts- und Politikraum der Welt sein. Die zweite große Heraus­for­derung auf der europa­po­li­ti­schen Tages­ordnung sei die Verab­schiedung der Europäi­schen Verfassung, zu deren Kernele­menten eine Stärkung der Gemein­samen Außen- und Sicher­heits­po­litik und der Ausbau des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gehören. Im Zuge der Erwei­terung werde sowohl die weltpo­li­tisch größere Rolle der Europäi­schen Union als auch ihre Fähigkeit, Wohlstand und Sicherheit für ihre Bürge­rinnen und Bürger zu sichern und fortzu­ent­wi­ckeln, von heraus­ra­gender Bedeutung sein. Frau Schreyer betonte, dass sich das Anwachsen der EU-Bevöl­kerung um 28 Prozent auch im Finanz­rahmen der Europäi­schen Union für die Jahre 2007 – 2013 nieder­schlagen müsse. Dies um so mehr, als zu erwarten sei, dass zumindest Rumänien und Bulgarien in diesem Zeitraum der EU beitreten werden. Die Europäische Kommission hat aller­dings – so Schreyer – im Sinne der Konso­li­dierung der Haushalte, die ja für die Mitglied­staaten einen Imperativ darstellt, keine Ausweitung der Eigen­mittel-Obergrenze vorge­schlagen; vielmehr zielt ihr Vorschlag auf eine Beibe­haltung der jetzigen Eigen­mittel-Obergrenze von 1,24 Prozent des Brutto-Natio­nal­ein­kommens (BNE). Diese vergleichs­weise geringe „Staats­quote“ sollte aller­dings stärker als im zurück­lie­genden Finanz­pla­nungs­zeitraum 2000 – 2006 ausge­schöpft werden, und zwar mit durch­schnittlich 1,14 Prozent BNP. Begründet wird diese relative und auch absolute Zunahme der Ausgaben nicht nur mit einer nahezu Verdop­pelung der Mitglie­derzahl, sondern auch mit neuen Aufga­ben­feldern der Europäi­schen Union in der Außen‑, aber auch in der „Innen“politik. Deshalb sollten auch die Netto-Zahler ihre Beiträge an die Europäische Union als Inves­tition in eine gemeinsame Zukunft sehen. Schreyer erklärte, dass die Europäische Kommission in ihren Vorschlägen für die Struk­tur­po­litik neben dem Kohäsi­onsziel das Ziel der Förderung von Wachstum und Beschäf­tigung, also die Lissabon- und Göteborg-Agenda, ins Zentrum gestellt habe. Frau Schreyer stellte in Aussicht, dass im Jahre 2013 der Anteil der Agrar­po­litik am EU-Haushalt von derzeit 46 auf 36 Prozent zu senken sein wird und die struk­tur­po­li­ti­schen Ausgaben sich auf dem Niveau von 2007 stabi­lisie-ren werden. So würden Mittel frei, die auf neue Ziele, wie etwa Inves­ti­tionen in Forschung und Techno­logie sowie Ausbildung und Mobilität von Studie­renden und Lernenden, gelenkt werden können. Aber auch Heraus­for­de­rungen wie der Gemeinsame Grenz­schutz und die Krimi­na­li­täts­be­kämpfung verlangten ein gemein­schaft­liches „burden sharing“. Darin drücke sich auch die Tendenz aus, dass die Europäische Union mehr und mehr öffent­liche Güter für alle Bürge­rinnen und Bürger, die in der Europäi­schen Union leben und arbeiten, finanziert.

Staats­mi­nister Sinner stellte die Forderung der Nachhal­tigkeit in der Europa­po­litik und die diesbe­züg­lichen finan­zi­ellen Aspekte in den Mittel­punkt seines State­ments. Er unter­strich, dass der Freistaat Bayern als europäi­sches Kernland ein vitales Interesse daran habe, dass die Europäische Union ein Erfolgs­projekt bleibe, mit dem ein Raum des Friedens, der Freiheit und Gerech­tigkeit geschaffen werde. Minister Sinner richtete sein Augenmerk vor allem auf die Wachs­tums­schwäche der Volks­wirt­schaften in der EU. Die Haushalts­mittel der Europäi­schen Union sollten in dem Maße steigen, in dem auch die Volks­wirt­schaften in der Union wachsen. Unter dem Gesichts­punkte der Nachhal­tigkeit dürften die vorhan­denen Konso­li­die­rungs­an­stren­gungen, die eine zentrale Grundlage für die Wieder­ge­winnung von Wachstum sind, nicht durch eine extensive Ausga­ben­po­litik auf der Ebene der EU unter­höhlt werden. Zudem seien für die Verbes­serung der Wettbe­werbs­fä­higkeit Deutsch­lands zusätz­liche Anstren­gungen notwendig, wie etwa die Reform des Steuer­systems. Die Wachs­tums­im­pulse der Lissabon-Strategie bezeichnete Sinner als ernüch­ternd gering. Als Einspar­mög­lichkeit im EU-Haushalt verwies er auf die Kofinan­zierung der agrar­po­li­ti­schen Ausgaben für die Markt­ord­nungen aus natio­nalen Haushalten.

In der anschlie­ßenden Diskussion wurde insbe­sondere auf die Inter­es­senlage der ostdeut­schen Länder hinge­wiesen, die, wie Kommis­sarin Schreyer bestä­tigte, auch 2007/13 überwiegend als „Ziel 1‑Regionen“ mit hoher Beihilf­e­in­ten­sität einge­stuft würden. Die Diskussion machte die Komple­xität der Inter­es­sen­kon­stel­la­tionen deutlich. So unter­stütze der Freistaat Bayern die Position der Bundes­re­gierung, bei etwa 1 Prozent BNP als Eigen­mit­tel­ober­grenze zu bleiben, um Konso­li­die­rungs­an­stren­gungen in den Mitglied­staaten nicht zu gefährden. Die ostdeut­schen Länder plädieren hingegen vor allem für eine Fortsetzung der hohen Förder­bei­träge aus dem EU-Haushalt, da sie von Seiten des Bundes keine zusätz­lichen Transfers erwarten können. Schließlich herrscht ein zumindest rheto­ri­scher Konsens unter den politi­schen Akteuren und Parteien, dass eine Umschichtung von EU-Mitteln zugunsten der relativ armen neuen Mitglied­staaten, die noch einen langen Aufhol­prozess vor sich haben, unabdingbar ist. Die Diskussion über das EU-Budget und die Ausga­ben­po­litik wird mit der Vorlage konkreter Legis­la­tivakte durch die Kommission vor der Sommer­pause in eine nächste Runde gehen.