EUROPA VERSTEHEN, EUROPA IN DIE ZUKUNFT DENKEN – 40 Jahre Jahrbuch der Europäischen Integration
Mit einem digitalen Festakt feierte das Institut für Europäische Politik (IEP) das Erscheinen der 40. Ausgabe des Jahrbuchs der Europäischen Integration im Kreise von Förderern, FreundInnen und AutorInnen des Jahrbuchs. In diesem Rahmen begrüßte Dr. Funda Tekin, Direktorin am IEP, herzlich die beiden Herausgeber, Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels, die das Jahrbuch 1980 aus der Taufe hoben und dieses seitdem Jahr für Jahr editieren und begleiten. Anlässlich der Jubiläumsausgabe dankte Tekin dem Auswärtigen Amt für die kontinuierliche Förderung des Jahrbuchs, dem Nomos-Verlag für die sehr gute Zusammenarbeit sowie der Europäischen Kommission, deren strategischer Partner das IEP ist.
Dr. Tekin und Dr. Jörg Wohan, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin, hoben in ihren eröffnenden Worten sowohl die mannigfaltigen Herausforderungen der Europäischen Union (EU) als auch bereits Erreichtes hervor. Der Rückblick auf das letzte Jahrzehnt offenbare die multiplen Krisen der EU von der Eurozonen- über die Migrations- und schließlich zur COVID-19-Krise. Außerdem wurde auf die Zunahme nationaler Alleingänge verwiesen, deren drastischstes Beispiel der Brexit sei. Die Konferenz über die Zukunft Europas stelle gleichzeitig aber eine Chance für die EU zur Zukunftsgestaltung dar. Das Jahrbuch ermögliche durch seinen dokumentarischen Charakter, die Europäische Integration kontinuierlich nachvollziehen und durch seine kritische Analyse Europa auch in die Zukunft denken zu können. Als dokumentarisches Standardwerk der Europäischen Integration habe es auch positive Entwicklungen in jüngerer Vergangenheit begleitet: Erstens zeige der Wiederaufbaufonds NextGenerationEU, dass die Integration Europas weiterentwicklungsfähig sei und Krisen immer wieder als Impulse für neue Integrationsschritte genutzt würden. Zweitens habe die gemeinsame Impfstoffbeschaffung auf europäischer Ebene ein gutes Gleichgewicht zwischen Solidarität und gesundem, wohlverstandenem Eigeninteresse erreicht. Und drittens seien mit der sogenannten Rechtsstaatskonditionalität und dem Rechtsstaatsdialog im Jahr 2020 überfällige Instrumente geschaffen worden, die gemeinsamen europäischen Werte stärker zu verankern.
Das Jahrbuch wurde außerdem von Sylvie Goulard1, Vizepräsidentin der Banque de France, sowie Ko-Herausgeber Prof. Dr. Werner Weidenfeld, Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Irina Speck, Leiterin des Referats „Grundsatzfragen Europapolitik“, gewürdigt. Goulard, Weidenfeld und Speck erörterten, wie Europa verstanden und in die Zukunft gedacht werden sollte. Dr. Werner Hoyer, Präsident der Europäischen Investitionsbank sowie Präsident des IEP, hob hervor, wie die zahlreichen Stationen Goulards (Beraterin von Kommissionspräsident Romani Prodi, Mitglied des Europäischen Parlamentes, französische Verteidigungsministerin, Vizepräsidentin der Banque de France) eindrücklich aufzeigten, dass sie eine leidenschaftliche Europäerin und einer der Pfeiler des deutsch-französischen Tandems sei.
Der Diskussion lagen drei inhaltliche Leitfragen zur Europäischen Integration zugrunde. Erstens müsse die Frage nach dem „Warum“ der Integration mit den großen Herausforderungen der EU beantwortet werden. Der Klimawandel stell eine präzedenzlose Veränderung von Gesellschaft und Wirtschaft dar, deren Intensität aktuell noch gar nicht absehbar sei. Die weltweiten Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie zeigten, dass es starke Institutionen brauche, um demokratische Errungenschaften zu stützten – auch in der EU. Das europäische Modell der Sozialen Marktwirtschaft habeeinen fantastischen gesellschaftlichen Wert für die Bewältigung dieser Herausforderungen. Gleichzeitig müsse die deutsche Europapolitik die Auswirkungen von Krisen im Rest der Union – beispielsweise im Falle der Finanzkrise in Südeuropa – stärker berücksichtigen. Zudem wurde an die Entstehung des Jahrbuchs 1980 erinnert, welches angesichts einer immer komplexer werdenden Integration kritische Analyse, Betrachtung und Einordnung des Integrationsprozesses liefern sollte. Der doppelte Wert des Jahrbuchs zeige sich in seinem Charakter als Nachschlagewerk für PolitikwissenschaftlerInnen und ZeithistorikerInnen, die den langfristigen Prozess der europäischen Einigung analysieren wollten. Betont wurde außerdem, dass die EU trotz aller Probleme eine Erfolgsgeschichte sei. Europa habe Krisen immer für Lernprozesse fruchtbar gemacht.
Zweitens wurde diskutiert, wie weit die Europäische Integration vorangetrieben werden müsse. Zwar gebe es keine Patentrezepte in der Debatte um eine „Finalität“ Europas, jedoch zeige sich angesichts aktueller Herausforderungen, dass Europa unter Zugzwang stehe. Es seien entscheidende Weichenstellungen für den technologischen Wandel verpasst worden, die dringen nachgeholt werden müssten. So schade beispielsweise der Mangel an Förderung grenzüberschreitender Kapitalallokation den eigenen, europäischen Unternehmen. Außerdem müsse die EU stärker mit einer Stimme sprechen – auch in internationalen Gremien wie den G20. Kurzum: Europa müsse zwar einerseits optimistisch und vertrauensvoll in die Zukunft schauen, sich aber auch selbstkritisch eingestehen, dass es schneller und entschiedener handeln muss. Es seien Parallelen zwischen aktuellen europäischen Herausforderungen und der mit dem Schlagwort „Eurosklerose“ bezeichneten Krise in den 1980er Jahren feststellbar. Daraus könnten wichtige Lehren für die Zukunft gezogen werden. So seien führungsbereite Spitzenpolitiker notwendig, um Probleme zu adressieren. Zudem benötige es strategische Köpfe, die Visionen für die Zukunft Europas formulierten. Und letztlich müsse Europa seine strategischen Defizite überwinden, um zukunftsorientiert handeln zu können.
Die dritte Leitfrage befasste sich mit der Zukunft der Integration. Es seien Visionen notwendig, um die drei zentralen Herausforderungen Klimakrise, technologischer Wandel und europäische Werte zu lösen. Hervorgehoben wurde hier insbesondere die Bedeutung von grenzübergreifender Kommunikation und die Produktivkraft demokratischen Streitens. Dies helfe, die Interessen, Ängste und Probleme der anderen EuropäerInnen zu verstehen und durch die unterschiedlichen Kulturen voneinander zu lernen. Das Jahr 2021 wurde als „Schicksalsjahr“ bezeichnet, das die Notwendigkeit zur gemeinsamen Antwortfindung für schicksalshafte Fragen aufzeige. Gemeinsame europäische Problemlösungen brauchen Kommunikation, Dialog und konstruktiven Streit. Mit der Konferenz über die Zukunft Europas sei eine innovative, gesamteuropäische Ideenwerkstatt gestartet, zu der die AutorInnen und Herausgeber des Jahrbuchs eingeladen wurden.
Im Anschluss an die Keynote versammelte Funda Tekin mit Michael Garthe, Georg Link und Jana Schubert drei ehemalige bzw. aktuelle Jahrbuch-RedakteurInnen, um unter der Metapher des „analytischen Maschinenraums“ Einblicke in die Entstehungsprozesse des Werkes zu ermöglichen. Auffälligster Unterschied innerhalb der Jahrbuch-Redaktion sei die Digitalisierung der Prozesse: Während die analogen Recherche- und Abstimmungsprozesse in den 1980er Jahren großen Aufwand bedeuteten, hätten digitale Werkzeuge das Setzen, Korrigieren, Kommunizieren und Recherchieren als Schritte des heutigen Redaktionsprozesses enorm vereinfacht.
Für die inhaltliche Berichterstattung über Europapolitik wurden die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie besonders hervorgehoben. Es wurde die These diskutiert, dass historische Verdienste angesichts der enormen aktuellen Herausforderungen aus dem Gedächtnis gerieten. Außerdem wurde die Schwierigkeit betont, dass nicht-öffentliche Verhandlungen in Krisenstäben und Konferenzen für eine kritisch beobachtende Öffentlichkeit kaum zugänglich seien. Es wurde bemängelt, dass europäische Institutionen in der journalistischen Landesberichterstattung nur eine Sündenbockrolle spielen würden, da Strukturen und Ansprechpartner zu undurchschaubar seien.
Diskutiert wurde auch die Notwendigkeit, die europäische Dimension des Alltagslebens vieler BürgerInnen auch in Krisenzeiten stärker zu berücksichtigen. Beispielsweise seien nach der pandemiebedingten Schließung der deutsch-französischen Grenze alte Vorurteile wieder aufgeflammt. In diesem Zusammenhang wurde auf die Notwendigkeit eines koordinierten, übergreifenden Grenzsystems verwiesen. Ausgehend von diesen Überlegungen entwickelte sich die Diskussion hin zur Bedeutung des deutsch-französischen Tandems für die EU. Dieses sei zwar notwendig, Europa aber noch vielfältiger. Die kommenden Bundestags- und französischen Präsidentschaftswahlen im April 2022 stellen Gelegenheiten dar, Europa zu stärken und die Demokratie auszubauen. Der Zugang zu vielen Informationen, wie ihn auch das Jahrbuch verkörpere, bietet große Chancen dafür als tages- bzw. jahresaktuelles Archiv von Politikfeldern oder Mitgliedstaaten.
Den Festakt schlossen Wolfgang Wessels, Ko-Herausgeber des Jahrbuchs und Direktor am Centrum für Türkei und EU Studien (CETEUS) der Universität zu Köln sowie Ehrenvorsitzender des Vorstands des IEP, und Katrin Böttger, Ko-Direktorin am IEP. Dabei wurde ein Ausblick auf das Jahrbuch der Europäischen Integration 2060 gewagt: Das Schema des Jahrbuchs mit seiner Betrachtung von Institutionen, Politikfeldern und Mitgliedstaaten sei noch immer bewährt. Die Ausgabe 2060 müsse für die Institutionen beispielsweise die Frage nach Führungsrollen in der Union anhand des Präsidenten des Europäischen Rates thematisieren. Die wissenschaftliche Debatte müsse betrachten, ob eine Entwicklung seiner Rolle vom ehrlichen Verhandlungsführer zum aktiven Repräsentanten Europas festzustellen sei. Zweitens stelle sich 2060 für die vom Jahrbuch kritisch beobachteten Politikfelder die Frage, ob sich NextGenerationEU als einmalige Schuldenaufnahme durch die Union erwiesen habe, oder ob das Budget der EU immer staatsähnlicher geworden sei. Drittens sei spannend, welche und wie viele Mitgliedstaaten das Jahrbuch 2060 im entsprechenden Kapitel aufführe. Möglicherweise sei Ungarn dann ausgeschieden, Schottland oder Katalonien aber hinzugekommen. Und viertens müsse in der Bilanz 2060 beachtet werden, welche internationalen Zwänge und Dynamiken sich auf die Union auswirken oder ob eine gemeinsame europäische Gesellschaft sich geformt habe.
Dieser Ausblick in die Zukunft schließe auch die offene Frage der Form des Jahrbuchs in 40 Jahren ein. Wahrscheinlich erschiene es dann nicht mehr gedruckt auf Papier, sondern nur noch in digitaler Form. Möglicherweise spiele auch Künstliche Intelligenz eine Rolle als „Mitglied“ in der Jahrbuch-Redaktion. Trotz dieser offenen Zukunftsfragen zeigten sich Wessels und Böttger zum Abschluss optimistisch, dass das Jahrbuch auch in 40 Jahren HistorikerInnen und ZeitgenossInnen informieren und die Entwicklungen in Europa kritisch analysieren werde. Gerade in Zeiten von Twitter, durch das eine Annäherung an eine europäische Öffentlichkeit möglich werde, bedürfe es vertiefter Einordnung und Analyse der Europäischen Integration. Auch über die wertvolle Arbeit des Jahrbuchs hinaus arbeite das IEP daran, Interesse und Verständnis zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern und zukunftsorientierte Visionen europäischer Politik zu entwickeln. Schließlich endete der Festakt mit Dank an RedakeurInnen, Verlag, Fördermittelgeber und besonders an die AutorInnen einerseits, und mit einem optimistischen Blick in die Zukunft des Jahrbuchs der Europäischen Integration als europapolitisches Standardwerk andererseits.