Sie lesen aktuell unserer Archiv. Die aktuelle Webseite befindet sich unter: iep-berlin.de
You are currently reading our archive. The current webseite is located at: iep-berlin.de/en/

IEP-Mittagsgespräch mit Staatsminister Michael Roth, MdB: „Deutsche Europapolitik vor großen Bewährungsproben“

Michael Roth, MdB und Staats­mi­nister für Europa im Auswär­tigen Amt, sprach im Rahmen der Reihe „IEPMit­tags­ge­spräche“ über die großen gegen­wär­tigen Bewäh­rungs­proben für die deutsche Europa­po­litik. Die Veran­staltung fand am 30. Mai 2016 in der Vertretung des Landes Hessen beim Bund statt und wurde von Prof. Dr. Mathias Jopp, Direktor des Instituts für Europäische Politik (IEP), moderiert. Roth, der auch Mitglied im Kuratorium des IEP ist, sprach vor fast 150 Zuhöre­rinnen und Zuhörern, insbe­sondere inter­es­sierten Bürge­rinnen und Bürgern, Studie­renden, aber auch Multi­pli­ka­toren aus Wissen­schaft und Bildung sowie Vertre­te­rinnen und Vertretern der Zivil­ge­sell­schaft und von Politik und Verwaltung.

Viele machen sich Sorgen um Europa. Und das nicht zu Unrecht: Flücht­lings­krise, Wirtschafts- und Finanz­krise, hohe Jugend­ar­beits­lo­sigkeit, ein möglicher Austritt Großbri­tan­niens aus der EU — diese Reihe der Hiobs­bot­schaften ließe sich fortsetzen. Dabei dürfen wir eines nicht vergessen: Krise bedeutet für Europa immer auch Fortschritt, denn Krise bedeutet Druck. Und ohne Druck geht es manchmal eben nicht in der kompli­zierten europäi­schen Gemengelage. Zusammen mit unseren Partnern in Europa müssen wir weiterhin konkrete Lösungen erarbeiten, so wie in der Finanz­krise oder wie zuletzt in der europäi­schen Flücht­lings­po­litik. Wir müssen realis­tisch bleiben. Der ganz große Wurf wird uns nicht immer gelingen. Wir sind inzwi­schen zu viele und zu heterogen, um rasch zu ambitio­nierten Lösungen zu kommen. Aber Schritt für Schritt und vor allem gemeinsam und solida­risch werden wir alle Bewäh­rungs­proben entschieden besser meistern als allein.

Auch das müssen wir akzep­tieren. Die Bedro­hungen durch inter­na­tio­nalen Terro­rismus, der Klima­wandel oder die Folgen des Krieges in Syrien, all das sind komplexe Fragen, auf die wir über Nacht keine Antworten finden werden. Und auch als Europa alleine nicht finden können. Denn wir brauchen die Zusam­men­arbeit mit unseren inter­na­tio­nalen Partnern. Aber je größer das Problem, desto kompli­zierter ist auch die Lösung. Wir müssen daher Europa Zeit geben, um Lösungen zu entwi­ckeln. Die Rufe der Populis­tinnen und Populisten nach vermeintlich einfachen Antworten gehen an der Wirklichkeit vorbei. Und doch treffen sie vielerorts auf frucht­baren Boden. Diese Gefahr dürfen wir nicht unter­schätzen. Wir können ihr nur begegnen, indem wir trans­parent kommu­ni­zieren, was geht und was nicht. Für uns ist das eine Frage der Glaubwürdigkeit.

Präsident Obama hat bei seinem Besuch in Hannover an den Wert Europas erinnert, zuletzt auch Papst Franziskus bei der Verleihung des Karls­preises. Wir Europäe­rinnen und Europäer müssen uns trotz aller Schwie­rig­keiten wieder darauf besinnen. Die Einbindung der Staaten Europas in den Ordnungs­rahmen der EU ist unser Garant für Sicherheit, Wohlstand und Frieden. Europa ist unsere Lebens­ver­si­cherung in stürmi­schen Zeiten. Mehr als 70 Jahre Frieden auf dem europäi­schen Kontinent sind keine Selbst­ver­ständ­lichkeit — dank der EU werden Konflikte heute an Schreib­ti­schen und in Konfe­renz­räumen austragen und nicht mehr auf Schlacht­feldern wie noch weit ins 20. Jahrhundert hinein. Dieses europäische Erfolgs­projekt dürfen wir nicht leicht­fertig aufs Spiel setzen. Wir alle müssen mehr Verant­wortung in Europa und für Europa übernehmen.

Europa­po­litik funktio­niert nur im Team. Alle Mitglied­staaten — egal ob groß oder klein, ob Ost oder West, ob Nord oder Süd, ob Gründungs­mit­glied oder frisch beigetreten — sind aufge­rufen, den Motor Europas gemeinsam am Laufen zu halten und neuen Schub zu geben. Wir brauchen mehr Teamgeist in Europa. Denn die Balance zwischen Belangen einzelner Mitglied­staaten und unseren gemein­samen Inter­essen und Werten muss immer wieder neu austa­riert werden. In einem Kreis von 28 muss dafür jeder Mitglied­staat zum Ausgleich und Kompromiss bereit sein — sonst finden wir gar keine gemein­samen Antworten, was immer die schlech­teste Lösung für alle wäre.

Die Debatte um Europas Zukunft, über Flieh­kräfte und Renatio­na­li­sie­rungs­ten­denzen kann nicht nur in Exper­ten­kreisen geführt werden. Gleich­zeitig dürfen wir auch den Rechts­po­pu­lis­tinnen und- populisten mit ihren vermeintlich einfachen Antworten das Feld nicht überlassen. Den Dialog über Europa müssen wir offen und ehrlich führen. Dazu gehört auch anzuer­kennen, dass Europa nicht für alle eine Herzens­an­ge­le­genheit ist, sondern vielfach eine Frage nach Nutzen und Kosten. Daher müssen wir den Mehrwert gemein­samen Handelns vermitteln — die bloße Forderung nach mehr Europa reicht da nicht aus. Wir müssen aufzeigen, dass koope­rative Ansätze für grenz­über­schrei­tende Probleme zielfüh­render sind als nationale Alleingänge.

Die EU ist eine Werte­ge­mein­schaft. Diese Werte schweißen uns noch viel enger zusammen als alle wirtschaft­lichen Verflech­tungen. In Europa müssen wir diese Werte im täglichen Mitein­ander pflegen und vertei­digen. Das ist eine fortdau­ernde Aufgabe unserer europäi­schen Gesell­schaft — denn in Europa schaut längst nicht mehr jede nationale Gesell­schaft nur auf sich selbst, sondern wir müssen auch aufein­ander achten. Das klassische Prinzip der Nicht­ein­mi­schung in die inneren Angele­gen­heiten anderer Staaten gilt in der EU ausdrücklich nicht mehr.

Als größter Mitglied­staat der EU kommt uns eine Führungs­rolle zu, ob wir das wollen oder nicht. Nicht als Selbst­zweck, sondern aus Überzeugung müssen wir diese Aufgabe annehmen. Denn gerade wir haben vom europäi­schen Einigungs­prozess sehr stark profi­tiert. Deshalb müssen wir es auch aushalten können, dass einige von uns mehr Engagement fordern und andere gerade dies ablehnen Aber wir brauchen ein feines Sensorium für die unter­schied­lichen Wahrneh­mungen und Inter­essen — wir müssen Europa mit den Augen unserer Partner sehen und uns in deren Lage versetzen. Nur dann können wir auch Entge­gen­kommen und Solida­rität erwarten und gemeinsame Schritte zum Wohle aller unternehmen.

Die Rede von Staats­mi­nister Michael Roth, MdB „Deutsche Europa­po­litik vor großen Bewäh­rungs­proben. Sieben Anmer­kungen zur Lage in Europa“ finden Sie auf der Seite des Auswär­tigen Amtes.

 

 

 


Downloads

Bilder