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IEP-Mittagsgespräch mit Prof. Dr. Martin Selmayr: „Aktuelle Herausforderungen der Juncker-Kommission“

Martin Selmayr und Katrin Böttger

Prof. Dr. Martin Selmayr, Kabinettchef des Präsi­denten der Europäi­schen Kommission, referierte am 01. Juni 2015 in der Vertretung der Europäi­schen Kommission in Berlin zum Thema „Aktuelle Heraus­for­de­rungen der Juncker-Kommission“. Elisabeth Kotthaus, Politische Abteilung der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland, hielt ein Grußwort. Die Veran­staltung wurde von Dr. Katrin Böttger, stell­ver­tre­tende Direk­torin des Instituts für Europäische Politik (IEP), moderiert.

Seinen Vortrag eröffnete Selmayr mit der Beschreibung der drei Beson­der­heiten der Juncker-Kommission. Dazu zähle nicht nur die Person Jean-Claude Juncker selbst, ein überaus erfah­rener Europa­po­li­tiker, sondern auch das besondere Prozedere, durch das er in das Amt einge­setzt wurde. Mit Juncker sei zum ersten Mal ein Spitzen­kan­didat mit einem Leitlinien-Programm als Kommis­si­ons­prä­sident gewählt worden – ein Umstand, der diese Kommission politi­scher mache als andere zuvor, wie Selmayr unter­strich. Als dritte Beson­derheit hob er die neue Struktur der Kommission hervor: Mit der Neude­fi­nition und Stärkung des Amtes der Vizeprä­si­denten habe Juncker eine neue Hierar­chie­ebene geschaffen, die für bestimmte Kernthemen zuständig sei. Die so entstandene „Matrix­struktur“ helfe, die unter­schied­lichen Fachres­sorts zu koordi­nieren und vorab mögliche Kompro­misse zu schließen. Dies steigere die Effizienz der Kommission erheblich.

Im zweiten Teil seines Vortrags widmete sich Professor Selmayr den fünf großen Heraus­for­de­rungen der Juncker-Kommission: der wirtschaft­liche Entwicklung Europas, der Außen- und Sicher­heits­po­litik der EU, der Flücht­lings­pro­ble­matik, der briti­schen Frage sowie der Griechenland-Krise. Hinsichtlich der wirtschaft­lichen Entwicklung müsse die Europäische Union Rahmen­be­din­gungen schaffen, um die Nachwir­kungen der Finanz­krise zu überwinden – der Inves­ti­ti­onsplan Junckers sei hierbei ein erster Schritt. Das wichtigste Gut Europas sei jedoch der Binnen­markt, wie Selmayr betonte. Drei Projekte müssten gefördert und ausge­weitet werden, um ein unein­ge­schränktes Funktio­nieren zu ermög­lichen: der digitale Binnen­markt, die Energie­union und die Kapital­markt­union. Neben wirtschaft­lichen Aspekten spiele auch die Außen- und Sicher­heits­po­litik, insbe­sondere mit Blick auf die Ukraine-Krise, eine wichtige Rolle für die EU-Kommission. Hier stellte Selmayr das Selbst­ver­ständnis der EU als „soft power“ in den Vorder­grund. Entspre­chend müsse auf Russlands Vorgehen in der Ukraine-Krise mit Diplo­matie und Hilfs­geldern zur Stabi­li­sierung der Ukraine reagiert werden. Mit der Flücht­lings­frage wandte sich Selmayr dem dritten drängenden Problem der Juncker-Kommission zu. Das Grund­prinzip der Solida­rität verpflichte uns, Flücht­linge nicht abzuweisen. Gleich­zeitig wies er ausdrücklich darauf hin, dass bei der Verteilung der Flücht­linge und Asylsu­chenden die Verant­wortung bei allen EU-Mitglied­staaten läge und eine gemeinsame Lösung von höchster Bedeutung sei. Bezüglich der briti­schen Frage, der vierten Heraus­for­derung der EU-Kommission, sei es das Ziel, Großbri­tannien in der Europäi­schen Union zu halten. Gewisse Reformen, die den Fokus der Union mehr auf die großen Fragen wie Wirtschaft und Migration lenkten, seien durchaus im Sinne Junckers. Offen bleibe, ob hierfür eine Vertrags­än­derung notwendig würde, was Selmayr nicht katego­risch ausschloss, jedoch als sehr schwierig einschätzte. Die fünfte Heraus­for­derung sei schließlich die Griechenland-Krise. Aus ökono­mi­scher Sicht hätte Griechenland nicht in die Euro-Zone aufge­nommen werden dürfen – doch die Europäische Union funktio­niere nicht rein ökono­misch, sondern auch politisch, wie Selmayr ausdrücklich hervorhob. Auch sei ein Ausschluss Griechen­lands keine Alter­native. Die bishe­rigen Kredite hätten den deutschen Steuer­zahler keinen Cent gekostet. Würde Griechenland die Eurozone und die europäische Gemein­schaft hingegen verlassen, wäre ein Bankrott des Landes die Folge. Die Europäische Union sehe sich dann in der Pflicht, Entwick­lungs­hilfe in Form von Hilfs­zah­lungen zu leisten, die Europa wesentlich teurer zu stehen kommen würden als die bishe­rigen Kredite. Weiterhin sei die Währungs­union irrever­sibel – und der Euro damit „fester als eine bayerische Ehe“. Neben den fünf großen Heraus­for­de­rungen der EU-Kommission sei das wichtigste Anliegen Junckers, ein im Gefolge der Krise zerstrit­tenes Europa mit sich selbst zu versöhnen und das Vertrauen der Bürger wiederzugewinnen.

In der anschlie­ßenden angeregten Diskussion mit dem Publikum gab es nicht nur Gelegenheit, über das Thema der digitalen Sicherheit sowie über den Daten­schutz in Deutschland und Europa zu sprechen, sondern auch über die neue Struktur der Juncker-Kommission. Die Sorge, dass diese statt Effizienz nur Rivali­täten schaffe, entkräftete Selmayr mit der These, dass nur in einem „kreativen Wettbewerb“ die besten Lösungen erreicht werden können. Die Einschätzung von einigen aus dem Publikum hingegen, dass Juncker zwar stark sei, aber nicht dieselbe Unter­stützung von Frank­reich und Deutschland genieße wie seine Vorgänger, wies er entschieden zurück. Zunächst seien gute Bezie­hungen mit allen 28 Mitglied­staaten wichtig, nicht nur mit Deutschland und Frank­reich. Im Übrigen funktio­niere die Beziehung zwischen Frank­reich, Deutschland und der Kommission sehr gut, vielleicht sogar besser als in den Jahren zuvor. Schließlich sei es Bundes­kanz­lerin Merkel gewesen, die Juncker als Spitzen­kan­didat der Europäi­schen Volks­partei vor den Europa­wahlen vorge­schlagen hatte.

Magdalena Patalong


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