„Die Substanz des Vertrages erhalten“
Round Table-Gespräch zwischen EU-Politikern und Europawissenschaftlern zur Zukunft des Verfassungsvertrages.
Am Dienstag, 8. Mai 2007, fand auf Einladung des Instituts für Europäische Politik (IEP) eine Gesprächsrunde zwischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments und Vertretern aus der Wissenschaft zum Thema „Perspektiven der europäischen Integration und des Verfassungsprozesses nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich und vor dem Juni-Gipfel der deutschen Ratspräsidentschaft“ statt.
Im Wesentlichen ging es bei dem Meinungsaustausch um die Zukunft des Europäischen Verfassungsvertrages und die Auswirkungen der französischen Präsidentschaftswahlen auf den konstitutionellen Prozess der EU, wie Jo Leinen, MdEP, in seinen einführenden Worten deutlich machte. Prof. Dr. Mathias Jopp, Direktor des IEP und gemeinsam mit Leinen Moderator der Veranstaltung, kritisierte, dass viele Mitgliedstaaten die aktuelle Diskussion nutzen würden, um weitere Veränderungen des Vertragstextes zu fordern. Mit dem neuen französischen Präsidenten, Nikolas Sarkozy, hätten Europa und auch Deutschland zwar einen guten Arbeitspartner, allerdings scheine das Thema Europa keine von Sarkozys Prioritäten zu sein; ein Zustand, der durchaus Probleme aufwerfen könne.
An die Teilnehmer der Diskussion stellte Jopp sechs Fragen, welche die Hauptthemen der aktuellen Debatte aufgriffen:
- Welche Teile des Verfassungsvertrags stellen die Substanz des Textes dar und sind somit nicht verhandelbar?
- Welche Aspekte können (erneut) verhandelt werden?
- Welche Themen müssen ggf. ergänzt werden (z.B. Energie, Soziales)?
- Was wären mögliche ‚Package-Deals’?
- Welche rechtliche Form soll der neue Vertrag haben?
- Gibt es Alternativen zum Verfassungsvertrag und wenn ja, wie könnten diese aussehen?
Schnell kristallisierten sich in der Diskussion verschiedene problematische Aspekte heraus. Einig schienen sich fast alle Beteiligten, dass die Substanz des Vertrages erhalten bleiben und ein Scheitern vermieden werden müsse. Ob allerdings der Begriff ‚Verfassung’ sowie Symbole wie Flagge und Hymne Teil dieser Substanz darstellen, blieb umstritten. Eine große Bedeutung kam in diesem Zusammenhang auch der öffentlichen Wahrnehmung und der sozialen Dimension zu. Wichtig sei es, die Bürger der europäischen Staaten und ihre Bedenken ernst zu nehmen. Vor allem müsse der Eindruck vermieden werden, man würde nun durch „Mogeleien“ versuchen, den Verfassungsvertrag – trotz gescheiterter Referenden – doch noch zu ratifizieren, betonten mehrere Abgeordnete und Akademiker. Während der Blick auf Frankreich, die Niederlande und andere potentielle europaskeptische Länder gerichtet sei, dürften nicht gleichzeitig die 18 Mitgliedstaaten vergessen werden, die bereits dem Verfassungsvertrag zugestimmt hätten.
Als denkbare Option für die Ratifizierung eines neuen Vertragstextes diskutierten die Teilnehmer die Möglichkeit einer Differenzierung im Rahmen sogenannter ‚opt-outs’ oder ‚opt-ins’. Diese Instrumente ermöglichen einzelnen Staaten, sich bei bestimmten Vorhaben nicht zu beteiligen. In der politischen Realität gibt es bereits zahlreiche Bereiche, in denen dieses Vorgehen erfolgreich praktiziert wird (z.B. Schengen, Euro-Zone). Warum solle man diese Möglichkeit nicht auf andere Politikbereiche ausdehnen, fragten einige Teilnehmer. Eine Konsequenz dieser Option, dass nämlich der Vertrag selbst in den verschiedenen Sprachfassungen unterschiedlich ausfallen könnte (und beispielsweise Polen sich in der Präambel auf das christliche Erbe beziehe, während andere Mitgliedstaaten offenere Formulieren wählen), schien jedoch keine unterstützende Mehrheit zu finden.
Auch die Rolle des Europäischen Parlaments im weiteren konstitutionellen Prozess wurde thematisiert. Während von wissenschaftlicher Seite vermehrt die Aufforderung geäußert wurde, das Europäische Parlament müsse sich aktiver in die öffentliche Debatte einbringen und im Vorfeld der nächsten Regierungskonferenz (IGC) konkrete Änderungsvorschläge zum Verfassungsvertrag vorlegen, sahen die Abgeordneten das Europäische Parlament eher als Verteidiger des bestehenden Textes. Beide Seiten befürworteten jedoch eine Teilnahme des Europäischen Parlaments an der nächsten Regierungskonferenz.
Zum Ende der Veranstaltung herrschte Einigkeit, dass die Themen der aktuellen Diskussion bedauerlicherweise nicht neu seien. Im Rahmen des Konvents seien alle Punkte bereits ausführlich diskutiert worden. Nachdem der vom Europäischen Konvent in andauernden Verfahren ausgehandelte Kompromiss in den französischen und niederländischen Referenden abgelehnt wurde, gälte es nun, einen neuen Kompromiss zu erreichen. Die mit Laeken begonnene Debatte nun erneut wieder grundsätzlich zu starten, berge die Gefahr kompletter und damit langwieriger Neuverhandlungen.
Ziel – auch der deutschen EU Ratspräsidentschaft – müsse es nun sein, den Reformprozess voranzubringen.
Teilnehmer (in alphabethischer Reihenfolge):
Jens-Peter Bonde (MdEP), Prof. Dr. Tanja Börzel (FU Berlin), Gesa-Stefanie Brincker M.E.S. (IEP), Richard Corbett (MdEP), Dr. Andrew Duff (MdEP), Dr. Daniel Göler (IEP), Carlos Carnero González (MdEP), Prof. Dr. Klaus Hänsch (MdEP), Dr. Pascal Hector (Auswärtiges Amt), Prof. Dr. Markus Jachtenfuchs (Hertie School of Governance), Prof. Dr. Mathias Jopp (IEP), Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann (MdEP), Timothy Kirkhope (MdEP), Jo Leinen (MdEP), Dr. Andreas Maurer (SWP), Prof. Dr. Jürgen Neyer (Europa Universität Viadrina).
Von: Pia Menning und Anne Schmidt