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Die Europäische Union vor zentralen Herausforderungen: Deutsch-italienisches Expertengespräch in der Villa Vigoni zu drängenden europäischen Zukunftsfragen

Rund 60 deutsche und italienische Experten diskutieren zentrale europäische Zukunftsfragen.

Zwischen dem 29. November und dem 1. Dezember 2007 trafen sich in der – am Comer See gelegenen – Villa Vigoni rund 60 deutsche und italie­nische EU-Experten, um zentrale europäische Zukunfts­fragen zu erörtern und bilaterale Handlungs­op­tionen auszu­loten. Stand die letzte, gemeinsam vom Institut für Europäische Politik (IEP), dem Deutsch-Italie­ni­schen Zentrum Villa Vigoni, sowie dem Mailänder Istituto per gli Studi di Politica Inter­na­zionale (ISPI) organi­sierte Veran­staltung im Oktober 2005 noch ganz im Zeichen der damaligen Verfas­sungs­krise, war die diesjährige Tagung angesichts der jüngsten Fortschritte in der Frage des Reform­ver­trags, von vorsich­tiger Zuver­sicht und neuem politi­schen Elan geprägt. So bildeten das Thema Reform­vertrag auch den Auftakt der gemein­samen Tagung, mit dem Ziel, insti­tu­tio­nelle Perspek­tiven der EU-Entwicklung aufzu­zeigen. In seiner abend­lichen Festrede unter­strich der deutsche Botschafter in Rom, Michael Steiner, dass trotz grund­sätz­licher Zuver­sicht in den bevor­ste­henden Ratifi­zie­rungs­prozess weiterhin einige „Klippen“ zu umschiffen sind. Zwar rechnet auch er letzt­endlich mit einem guten Ausgang des Vertrags­ge­bungs­ver­fahrens, verwies aber auch auf Staaten wie Großbri­tannien, die dem Reform­prozess weiterhin skeptisch gegen­über­stehen. Auch der zweite Festredner, der Vorsit­zende des Auswär­tigen Ausschusses im italie­ni­schen Parlament, Umberto Ranieri unter­strich die mit dem Reform­vertrag verbun­denen Gefahren, die sich aus der großen Zahl an „opt-outs“ ergeben.

Neben den Eröff­nungs­reden widmete sich ebenfalls das erste Diskus­si­ons­plenum dem Reform­vertrag sowie der bevor­ste­henden Regie­rungs­kon­ferenz. Nicolas Verola, Botschaftsrat im Italie­ni­schen Außen­mi­nis­terium, skizzierte in diesem Zusam­menhang seine Sicht zu den drei wichtigsten Fragen dieses Themen­kom­plexes: Ratifi­kation, Umsetzung, zukünftige Verfah­rens­weise. Er resümierte, dass das Glas bezüglich der Ratifi­zierung des Reform­ver­trages keines­falls halb leer, sondern bereits halb voll sei. Bei den zweifellos notwen­digen insti­tu­tio­nellen Änderungen handele es sich lediglich um minimale Adaptionen, so dass schnell zu Punkt zwei – der Umsetzung – geschritten werden könne. Im Anschluss an die Umsetzung sei es zum dritten angezeigt, die klassische Vorge­hens­weise der Regie­rungs­kon­ferenz durch neue Methoden der Entschei­dungs­findung zu ersetzen, da sich diese aus prakti­schen Gründen als ineffi­zient erwiesen hätten, die EU weiter­zu­führen. Christian Schlaga, Referats­leiter Südeuropa im Auswär­tigen Amt, erinnerte an die Enttäu­schung nach den Referenda in den Nieder­landen und Frank­reich, unter­strich aber gleich­zeitig, dass die diesbe­züg­lichen „Repara­tur­ar­beiten“ nun abgeschlossen seien. Änderungen in verschie­denen Themen­be­reichen hätten für Klärung in diesen Gebieten gesorgt, wobei in anderen offene Fragen, beispiels­weise bezüglich des Europäi­schen Auswär­tigen Dienstes, verblieben seien. Prof. Pistone von der Univer­sität Turin kriti­sierte hingegen den Vertrags­entwurf von Lissabon als nicht den Heraus­for­de­rungen angemessen und betonte die hohe Bedeutung der Europa­par­la­ments­wahlen. Auch Prof. Magiera von der Hochschule für Verwal­tungs­wis­sen­schaften in Speyer betonte konzep­tio­nelle Schwächen des Reform­ver­trages und Francesco Passa­relli äußerte Bedenken, dass der Reform­vertrag das inter­in­sti­tu­tio­nelle Spiel zwischen Europa­par­lament und Rat verkom­pli­zieren könnte. Demge­genüber bezeichnete die Leiterin der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung, Dr. Piepen­schneider die Vertrags­kritik als überzogen. Die neuen den Bürgern zur Verfügung stehenden demokra­ti­schen Mecha­nismen sowie die Zunahme des Einflusses des Europa­par­la­ments in Bezug auf das Gesetz­ge­bungs­ver­fahren ließe auch sie zu der Einschätzung gelangen, dass das Glas als halb voll anzunehmen sei. Umberto Ranieri, , rückte die Entwick­lungen im Verei­nigten König­reich in den Fokus seiner Betrach­tungen. Der Reform­vertrag biete viele Möglich­keiten des opt-outs und veran­lasste ihn zu der Sorge, dass sich auf diese Weise ein Europa der verschie­denen Geschwin­dig­keiten verfes­tigen könnte, was poten­tiell sehr proble­ma­tische Dimen­sionen annehmen könne.

Das zweite Diskus­si­ons­forum widmete sich den Möglich­keiten und Grenzen der Europäi­schen Nachbar­schafts­po­litik und unter­strich die deutschen und italie­ni­schen Sicht­weisen zu dieser Frage. Ettore Greco vom Istituto Affari Inter­na­zionali (IAI) stellte den hohen Anspruch der Europäi­schen Nachbar­schafts­po­litik heraus, da diese nicht nur eine Kooperations‑, sondern auch eine Integra­ti­ons­kom­po­nente beinhalte. Zudem inklu­diere die ENP auch Aspekte der Demokra­tie­för­derung und behandele die Thematik der Verein­barkeit von regio­nalen und überre­gio­nalen Politik­an­sätzen. Anschließend arbeitete Gerhard Almer, Referats­leiter in der Europa­ab­teilung des Auswär­tigen Amtes, drei Haupt­in­ter­es­sens­kom­plexe der ENP heraus: den Binnen­markt, Energie­part­ner­schaften und Probleme im Zusam­menhang mit Migra­ti­ons­be­we­gungen. Hier seien jeweils indivi­duelle Aktions­pläne von Nutzen, die aber dennoch kohärente Ansätze im Blick­punkt behalten. Prof. Eckart Straten­schulte, Leiter der Europäi­schen Akademie Berlin, berei­cherte die Debatte durch mehrere pointierte Thesen: So sei die ENP entstanden, um neue Beitritts­wünsche abzuwehren; in dieser Hinsicht sei sie aller­dings mit ihrer Politik der „strate­gi­schen Ambivalenz“ gescheitert. Zweitens funktio­niere die ENP nur gegenüber Südstaaten; in Bezug auf das östliche Europa berück­sichtige sie zu wenig die Rolle Russlands. Darüber hinaus fehle es innerhalb der EU an Akzeptanz für die ENP – zusam­men­ge­fasst betitelte er die ENP mit dem Motto „erfolg­reich scheitern“. Prof. Francesco Drago von der Univer­sität La Sapienza diagnos­ti­zierte darüber hinaus ein Kommu­ni­ka­tions- und Vermitt­lungs­problem zwischen der EU und den arabi­schen Staaten in Bezug auf die ENP. Die arabi­schen Staaten würden hier keinen roten Faden erkennen können und seien durch den bilate­ralen Charakter von Verhand­lungen und Zusam­men­arbeit in der Bewertung der Europäi­schen Nachbar­schafts­po­litik verun­si­chert. Die stell­ver­tre­tende Direk­torin des IEP, Dr. Lippert unter­strich, dass die ENP auch eine trans­at­lan­tische Dimension beinhalten solle. Der Dialog zwischen der EU und den USA sei defizitär und schwanke zu sehr zwischen Inklusion und Exklusion.

Das dritte Panel widmete sich der Europäi­schen Energie- und Klima­po­litik, welches das Potenzial besitzt, zu einem zentralen Integra­ti­ons­projekt der zukünf­tigen EU zu werden. So betonte etwa der deutsche Diplomat Martin Kremer die Wichtigkeit der Europäi­schen Energie- und Klima­po­litik, da die EU hier ihre Handlungs­fä­higkeit und konkrete Bedeutung für die Bürger unter Beweis stellen könne. Gegen­wärtig, so konsta­tierte Prof. Draetta von der Katho­li­schen Univer­sität Mailand, existiere noch keine kohärente Energie­po­litik der EU. Zur Bewerk­stel­ligung eines wettbe­werbs­fä­higen Energie-Binnen­markts bedürfe es der Aufgabe der exklu­siven Kompetenz der Mitglied­staaten im Energie-Bereich, wozu diese aber nicht bereit seien. Dessen ungeachtet stellte Giuseppe Zollino von der Univer­sität Padua die Bedeutung des Konzeptes einer gemein­samen Energie- und Klima­po­litik für die Wettbe­werbs­fä­higkeit der EU heraus. Bindende Ziele und auf diese ausge­richtete Instru­mente seien zum Erreichen dieses Zweckes unumgänglich, die Sicher­stellung ihrer Finan­zierung essen­tiell. Hingegen äußerte Oliver Geden von der Stiftung Wissen­schaft und Politik Skepsis in Bezug auf die Imple­men­tation einer kohärenten Energie- und Klima­po­litik, da Zielkon­flikte aufgrund von unter­schied­lichen Priori­tä­ten­set­zungen der Mitglied­staaten program­miert seien, beispiels­weise im Bezug auf das Spannungsfeld zwischen angestrebter Diver­si­fi­kation und Versorgungssicherheit.

Das abschlie­ßende Panel, welches seitens des ehema­ligen Staats­se­kretärs Dr. Jürgen Chrobog geleitet wurde, widmete sich sowohl den weltwirt­schaft­lichen, als auch den sicher­heits­po­li­ti­schen Heraus­for­de­rungen der Gegenwart und ging der Frage nach, inwieweit sich Europa in beiden Bereichen zu einem „global player“ entwi­ckelt hat bzw. das Potenzial besitzt, entspre­chende Fähig­keiten heraus­zu­bilden. Im Mittel­punkt der wirtschafts­po­li­ti­schen Diskussion standen dabei insbe­sondere die Finanz­markt­re­gu­lierung sowie die Rolle, welche die EU zukünftig in diesen Bereichen einnehmen sollte. Mit Blick auf die aktuelle Subprime-Krise wurde ausge­führt, dass diese sehr wohl droht, auf die Realwirt­schaft überzu­schwappen. Kritik übten unter­schied­liche Panel­teil­nehmer in diesem Zusam­menhang insbe­sondere an der Praxis der Credit Rating Agencies (CRAs), deren analy­tische Tiefe für Bewer­tungen oft viel zu kurz greife (5 Basis-Punkte). Der Bewer­tungs­ansatz von Rating­agen­turen könne grund­sätzlich als „theoriefrei“ charak­te­ri­siert werden und habe in der Vergan­genheit „keine korrekten Diagnosen geliefert“. Im Kontrast hierzu stellte etwa ISP-Vizeprä­sident Prof. Franco Bruni fest, dass CRAs zwar kein gutes Image besäßen und sicherlich auch Bewer­tungs­fehler gemacht hätten, doch das tatsäch­liche Versagen bei den Aufsichts­be­hörden zu suchen sei. Einigkeit bestand hingegen darin, dass die Finanz­märkte eine effek­tivere, europäische und gemeinsame Regulierung benötigten um Krisen vorzu­beugen und sie zu begrenzen.

Eine ausführ­li­chere Diskussion wurde auch in Bezug auf die Banken­auf­sicht geführt. Bruni sprach sich dabei für eine zentrale europäische Insti­tution und Struktur aus, wohin­gegen Prof. Hans-Helmut Kotz, Vorstand­mit­glied der Deutschen Bundesbank, auf die Notwen­digkeit einer regio­nalen Veran­kerung verwies und für eine nationale, dezen­trale Struktur plädierte, die jedoch nach gemein­samen europäi­schen Standards operiert. Aus seiner Sicht sei lediglich eine Lead-Insti­tution für die großen europäi­schen Bankhäuser (Top100) eine sinnvolle Einrichtung.

Den sicher­heits­po­li­ti­schen Diskus­si­onsteil eröffnete CDU-Außen­ex­perte Karl Lamers mit einer kriti­schen Analyse des trans­at­lan­ti­schen Verhält­nisses sowie einem klaren Plädoyer für mehr europäische Autonomie bei gleich­zei­tiger Inten­si­vierung der Konsul­ta­tions- und Abstim­mungs­ver­fahren mit den USA. Lamers stellte fest, dass nur ein starkes und sicher­heits­po­li­tisch selbst­be­wusstes Europa in der Lage sein würde, in Washington auch auf entspre­chendes Gehör zu stoßen und lobte ausdrücklich die Initiative des franzö­si­schen Präsi­denten Sarkozy, europäische Sicher­heits­po­litik sowohl innerhalb der EU als auch innerhalb der NATO voran­zu­treiben. Ein Kernelement neuer Eigen­stän­digkeit sei dabei die Schaffung einer autonomen Planungs- und Führungs­fä­higkeit in Form eines EU-Haupt­quar­tiers, wie es bereits im Jahr 2003 auf dem sogenannten Vierer­gipfel gefordert wurde und auf die Zustimmung vieler Disku­tanten traf. Kontrovers disku­tiert wurde hingegen unter anderem die Frage, wie stark die Bereiche der europäi­schen Außen‑, Sicher­heits- und Vertei­di­gungs­po­litik in einen integrierten Ansatz zu überführen sind. So sprach sich Prof. Müller-Brandeck-Bocquet klar für eine Diffe­ren­zierung zwischen diesen Politik­be­reichen aus. Der Beitrag von Dr. Ehrhart bemühte sich darüber hinaus insbe­sondere um eine aktuelle Verortung der Europäi­schen Sicher­heits- und Vertei­di­gungs­po­litik (ESVP) und skizzierte sowohl deren Fortschritte als auch erste operative Tendenzen, wie sich aus der Betrachtung der ersten EU-Einsätze ergeben. Dabei zog er ein grund­sätzlich positives Fazit zu den bishe­rigen zivilen und militä­ri­schen Einsätzen der EU, wenngleich auch Bedenken hinsichtlich der Nachhal­tigkeit geäußert wurden und im Einzelfall Zweifel an der Erfüllung politi­scher Unter­stüt­zungs­zu­sagen seitens einiger Mitglieds­staaten bei EU-Einsätzen konsta­tiert werden müssten.

Abschließend wurde dem schei­dende General­se­kretär der Villa Vigoni, Dr. Aldo Ventu­relli, unter großem Beifall für seine langjährige Arbeit um die deutsch-italie­ni­schen Bezie­hungen gedankt. In seinem Schlusswort betonte Ventu­relli die große Bedeutung des bilate­ralen Austauschs und unter­strich die konzep­tio­nelle Substanz der zurück­lie­genden dreitä­gigen Veranstaltung.

Von: Sammi Sandawi

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