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Arbeitnehmerfreizügigkeit in der erweiterten Europäischen Union — Stolperstein der Beitrittsverhandlungen

Am 18.Mai 2001 tagte die Studi­en­gruppe Erwei­terung des Instituts für Europäische Politik zum Thema “Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit in der erwei­terten Europäi­schen Union — Stolper­stein der Beitritts­ver­hand­lungen”” im Jean-Monnet-Haus in Berlin. Der Vorsit­zende der Studi­en­gruppe, Elmar Brok, MdEP leitete die Veran­staltung, die im Rahmen des von der Otto Wolff-Stiftung geför­derten Forschungs­pro­jekts die “EU Mitglied­schaft mittel- und osteu­ro­päi­scher Staaten: Probleme und Perspek­tiven und Strategien der Erwei­terung” stattfand. Es referierten Dr. Petra Erler, Mitglied im Kabinett von Kommissar Verheugen, die vor allem den Kommis­si­ons­entwurf für eine gemeinsame Position der Mitglied­staaten zur Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit im Rahmen der Erwei­terung erläu­terte und auch auf die Reaktionen in den Beitritts­ländern zu diesem Punkt einging. Aus den Reihen des Ausschusses für die Angele­gen­heiten der Europäi­schen Union sprachen Günter Gloser, MdB und Europa­po­li­ti­scher Sprecher der SPD-Bundes­tags­fraktion sowie Dr. Martina Krogmann, MdB (CDU). Sie lenkten die Aufmerk­samkeit auf die innen­po­li­tische Debatte um die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit wie z.B. die Ängste der Bürger in Deutschland vor Massen­mi­gration im Zuge der Erwei­terung sowie die Notwen­digkeit und den Sinn von Beschrän­kungen der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit. Dr. Herbert Brücker, wissen­schaft­licher Mitar­beiter des Deutschen Instituts für Wirtschafts­for­schung in Berlin und Mitautor eines Gutachtens für die Kommission zu den Folgen der Erwei­terung der Union auf die Beschäf­tigung und die Arbeits­märkte in den Mitglied­staaten ergänzte die Eröff­nungs­state­ments um die grund­sätz­liche Frage, inwieweit Migration überhaupt ein Problem für die Arbeits­märkte und z.B. die Lohnent­wicklung darstelle und welche Vor- und Nachteile die unter­schied­lichen Konzepte zur Beschränkung der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit aufweisen. An der Studi­en­gruppe nahmen Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissen­schaft und von Verbänden teil. Die Diskussion konzen­trierte sich auf folgende Aspekte:

“Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit in der erwei­terten Europäi­schen Union — Stolper­stein der Beitrittsverhandlungen”

Die Diskussion der Studi­en­gruppe fand vor dem Hinter­grund der spani­schen Bestre­bungen statt, die Zustimmung zu einer gemein­samen Position der EU zum Verhand­lungs­ka­pitel Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit an eine Besitz­stands­ga­rantie in Hinblick auf die Regio­nal­po­litik nach 2006 zu knüpfen. Inzwi­schen hat die spani­schen Regierung in diesem Punkt einge­lenkt und der gemein­samen Position zugestimmt. Die Kommission hatte im März 2001 zunächst fünf Optionen zur Lösung der Frage der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit vorge­schlagen. Sie unter­schieden sich in ihrer Reich­weite und ihren jewei­ligen Maßnahmen und reichten von der vollen und unmit­tel­baren Anwendung des Acquis (volle Freizü­gigkeit) über Schutz­klauseln, einem flexiblen System von Übergangs­re­ge­lungen, der Einführung eines festen Quoten­system bis hin zu einer generellen Nicht-Anwendung des Acquis für einen begrenzten Zeitraum.

Im Verlauf der Diskus­sionen im Rat über diesen Vorschlag der Kommission verengte sich das Entschei­dungs­spektrum auf die Optionen der Schutz­klauseln und eine mehrstufige Übergangs­re­gelung von maximal sieben Jahren. Vor allem dieje­nigen Mitglied­staaten der Union, die keine Gefahren für ihre Arbeits­märkte durch die Erwei­terung sehen, sprachen sich für Schutz­klauseln aus, die anderen jedoch für eine Übergangs­re­gelung. Die Kommission folgte letzterem Ansatz und legte einen — unter­dessen von den Mitglied­staaten angenom­menen — Vorschlag für einen Gemein­samen Stand­punkt der EU-Mitglied­staaten. Der gemeinsame Stand­punkt weist folgende Elemente auf:

Auf dieser Grundlage werden die Verhand­lungen mit den MOE-Kandi­daten (Zypern und Malta sind von Übergangs­re­ge­lungen in der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit ausge­nommen) im Kapitel Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit geführt.


Größen­ordnung und Probleme der Arbeitnehmerfreizügigkeit

Die Prognosen über die zu erwar­tende Migration aus den Beitritts­ländern in die heutigen Mitglied­staaten im Rahmen der Erwei­terung der Union weichen zum Teil erheblich vonein­ander ab. Dies macht eine allge­meine Einschätzung der Probleme, die durch die Wande­rungs­be­wegung zu erwarten sind, sowie den Umgang mit der Frage der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit in der wissen­schaft­lichen, politi­schen und öffent­lichen Diskussion schwierig. Neben rein metho­disch bedingten Abwei­chungen der Zahlen ergeben sich weitere Unter­schiede durch die den Prognosen zugrund­ge­legten Bezugs­punkte: Beziehen sich die Angaben auf die Gesamtheit der Migranten oder nur die Arbeits­su­chenden und für welches Beitritts­sze­nario (MOE‑8 oder MOE-10) werden die Aussagen getroffen” So geht eine Annahme über die Größen­ver­hält­nisse der Wanderung und der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit davon aus, dass ca. 200 000 bis 300 000 Migranten aus den Kandi­da­ten­ländern pro Jahr in die EU kommen werden; davon wird aber nur jeder Dritte (66 700 bis 100 000 Menschen) einen Arbeits­platz in den bishe­rigen EU-Staaten suchen und nur 80% dieser Arbeit­nehmer (ca. 53 600 bis 80 000 Menschen) werden sich in Deutschland bzw. Öster­reich nieder­lassen. Eine andere Schätzung geht hingegen von ca. 120 000 bis 130 000 Arbeit­nehmer pro Jahr aus den acht neuen Mitglied­staaten aus. Rumänien und Bulgarien sind in dieser Kalku­lation nicht enthalten; das Potential der arbeit­su­chenden Menschen aus diesen beiden Ländern wird in dieser Studie auf zusammen ca. 100 000 Arbeits­kräfte pro Jahr veranschlagt.

So unter­schiedlich die Größen­ord­nungen in allen diesen Prognosen sind, so stimmen sie doch darin überein, dass sich die Arbeits­su­chenden aus den Beitritts­ländern in erster Linie auf Deutschland und Öster­reich und gegebe­nen­falls auf Finnland (Pendler) konzen­trieren werden. Dieses Phänomen kann zumindest als Hinter­grund für die Ängste der Bürger in Deutschland und Öster­reich in Fragen der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit und mit Blick auf die innere Sicherheit bzw. den sozialen Frieden (z.B. illegale Migration, illegale Beschäf­tigung, Anstieg der Krimi­na­lität) infolge der Erwei­terung der Union gesehen werden. Gestützt auf diese Stimmungslage in der Öffent­lichkeit erklärt sich auch der Ruf der deutschen und öster­rei­chi­schen Politik nach Übergangs­re­ge­lungen für die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit. Dennoch wird weder von wissen­schaft­licher noch zum Teil von politi­scher Seite in Deutschland angenommen, dass es zu einer Massen­ein­wan­derung von Arbeits­kräften kommen wird, obwohl das Wohlstands­ge­fälle zwischen den alten und den neuen Mitglied­staaten der Union und die geogra­phische Lage der Bundes­re­publik Deutschland dies nahe legen würde. Nur ein Teil der Bevöl­kerung in den Beitritts­ländern — und dies abhängig von ihrem Bildungs­niveau und ihrem Alter ‑ist bereit zu wandern. Zudem wird eher eine Binnen­wan­derung in den jewei­ligen Kandi­da­ten­ländern als eine Migration in die EU-15 Staaten erwartet. Dies hängt zum einem mit dem Entwick­lungs­ge­fälle in den jewei­ligen Staaten zusammen. Ander­seits sprechen persön­liche Bindungen und das gewohnte Lebens­umfeld dafür, dass die Menschen versuchen werden, sich eine persön­liche Perspektive in ihren Heimat­ländern aufzu­bauen und zu sichern. Ein schneller Beitritt zur Europäi­schen Union kann hier neue Zuver­sicht schaffen und die erfor­der­lichen Impulse bieten.

Im Unter­schied zur “Süder­wei­terung” der Union, bei der die Wande­rungs­be­we­gungen bereits vor dem Beitritt der Länder statt­fanden, wird sich im Zuge der Osterwei­terung die Migration erst mit der Aufnahme in die Union einstellen. Die Prognose geht aber dahin, dass die Zuwan­de­rungs­zahlen rasch zurück­gehen und es mittel­fristig sogar zu einer Rückwan­derung der Menschen in ihre Heimat­länder kommen wird.

Es bleibt festzu­halten, dass eine mögliche Größen­ordnung der Zahl der Arbeits­su­chenden und auch der Migration insgesamt nicht präzise vorher­zu­sehen ist. Für die Menschen in den MOE-Ländern erscheint eine Arbeits­auf­nahme in den bishe­rigen EU-Staaten nach wie vor als Option, die sie als unmit­tel­baren Vorteil des Beitritts verlangen. Eine Massen­zu­wan­derung an Arbeits­kräften aus den Beitritts­ländern ist aber aus den genannten Gründen nicht zu erwarten. Die Befürch­tungen der Bevöl­kerung und die politi­schen Forde­rungen nach Übergangs­re­ge­lungen für die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit spiegeln folglich eher ein politisch-psycho­lo­gisch, denn ein real zu erwar­tendes Problem wider. Aus ökono­mi­scher Sicht werden sich nur geringe Effekte auf die Lohn- und Beschäf­ti­gungs­si­tuation durch die Zuwan­derung von Arbeits­kräften in die bishe­rigen Mitglied­staaten der Union ergeben. Weitaus größere Effekte für die jewei­ligen Volks­wirt­schaften der EU-15 Staaten werden sich jedoch durch die Dienst­leis­tungs­freiheit einstellen, da die Unter­nehmen aus den Kandi­da­ten­ländern die Löhne in den bishe­rigen Staaten der Union durch ihre Dienst­leistung direkt unter­bieten können und somit Branchen, die sich wie z.B. die Bauwirt­schaft im Struk­tur­wandel befinden, zusätzlich unter Druck geraten. Die Europa­ab­kommen räumen den Beitritts­ländern zwar keine Dienst­leis­tungs­freiheit ein, doch wurde bislang in keiner der vorhe­rigen Beitritts­runden die Freiheit der Dienst­leis­tungen mit der Aufnahme in die EU einge­schränkt. In Zusam­menhang mit dem gemein­samen Stand­punkt der EU bei der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit wurde es jedoch Deutschland und Öster­reich zugebilligt, übergangs­weise flankie­rende nationale Maßnahmen bei schwer­wie­genden Beein­träch­ti­gungen in einzelnen sensiblen Bereichen des Dienst­leis­tungs­sektors anzuwenden. Öster­reich kann diese Regelungen für die Sektoren Bauwirt­schaft, Gartenbau, Reini­gungs­dienste, Sozial­dienst und häusliche Kranken­pflege sowie Sicher­heits­dienste beanspruchen. Für die Bauwirt­schaft, für Reini­gungs­dienste und für Maler sind Übergangs­be­stim­mungen im Dienst­leis­tungs­be­reich von Seiten Deutsch­lands zulässig.


Quoten, Schutz­klauseln und Übergangs­re­ge­lungen: Vor- und Nachteile

Bereits im Mai 2000 stellte die EU in ihrer Gemein­samen Position zum Verhand­lungs­ka­pitel Freier Perso­nen­verkehr fest, dass die Frage der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit ein sensibles Thema sei. Die Europa­ab­kommen, die mit den Beitritts­kan­di­daten in der Vergan­genheit geschlossen wurden, räumte den Menschen aus den MOE-Ländern nicht das Recht ein, eine Arbeit in den EU-15 aufzu­nehmen; die Abkommen wiesen aber sogenannte Präfe­renz­klauseln hinsichtlich der Arbeits­auf­nahme auf, die jedoch nie in Anspruch genommen wurden. Die heute geltenden Regelungen für die Arbeits­kräfte aus den Kandi­da­ten­ländern basieren auf natio­nalen Bestim­mungen oder bilate­ralen Verein­ba­rungen. Im Zuge der Aufnahme neuer Mitglieder definiert jedoch Artikel 39 des EG-Vertrags die Frage der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit. In den bishe­rigen Beitritts­runden zur Europäi­schen Union wurden nur bei der Süder­wei­terung um Griechenland, Spanien und Portugal eine Übergangs­lösung in Form einer allge­meinen Schutz­klausel im Fall von ernst­haften und anhal­tenden wirtschaft­lichen Problemen in einzelnen Sektoren oder Regionen in die Beitritts­ur­kunden aufgenommen.

Die aktuelle Diskussion um die Beschränkung der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit konzen­trierte sich auf vier Optionen und deren Vor- und Nachteile:

Die Alter­na­tiven “Schutz­klauseln”, “flexibles System von Übergangs­re­ge­lungen” und die “Einführung eines festen Quoten­systems” können im Gegensatz zur “allge­meinen Nicht-Anwendung des Acquis für einen begrenzten Zeitraum” nach Mitglied­staaten, Beitritts­kan­di­daten, Regionen, Sektoren bzw. Dauer diffe­ren­ziert und variiert werden.

Schutz­klauseln ermög­lichen es den Mitglied­staaten, den Acquis in Sachen Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit anzuwenden und nur in den Fällen, in denen ihr Arbeits­markt gestört wird, effektive Gegen­maß­nahmen zu ergreifen. Diese Form der Beschränkung der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit hält den Verwal­tungs­aufwand relativ gering und legt die Handlungs­op­tionen in vorab definierten Elementen offen (mögliche Fälle, Schwellen usw. ). Zudem verringert sich der unfaire Wettbewerb auf dem Arbeits­markt, da illegal Beschäf­tigte aus den neuen Mitglied­staaten in legale Arbeits­ver­hält­nisse überführt werden. Nachtei­liger Effekt der Alter­native “Schutz­klauseln” ist, dass ein perma­nentes Monitoring der Arbeits­märkte erfor­derlich wird. Bei unvor­her­ge­se­henen Problemen auf dem Beschäf­ti­gungs­markt erweisen sie sich zudem als weniger effektiv, da zwischen dem Eintreten von Störungen auf dem Arbeits­markt und dem Einsatz von Schutz­klauseln eine Zeitver­zö­gerung besteht; Schutz­klauseln greifen ja grund­sätzlich erst dann, wenn die Problemlage bereits entstanden ist. Der Öffent­lichkeit vermitteln Schutz­klauseln daher nicht die Sicherheit, die sie in Bezug auf die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit wünschen. Der EU und ihren bishe­rigen Mitglied­staaten ist zwar das System der Schutz­klauseln aus den vorhe­rigen Beitritten vertraut, doch kamen diese Klauseln nie in der Praxis zum Tragen.

Ziel des flexiblen Systems der Übergangs­re­ge­lungen ist es, die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit graduell in einem begrenzten Zeitraum einzu­führen und dabei den bishe­rigen Mitglied­staaten ausrei­chende Garantien für ihre Arbeits­märkte zu gewähren. Zugleich schließt diese Option jedoch nicht aus, dass die EU-15 Staaten unter ihrer natio­nalen Gesetz­gebung ihren Arbeits­markt im Zuge der Aufnahme neuer Mitglieder vollständig öffnen. Um die Flexi­bi­lität des Systems zu gewähr­leisten, werden folgende Elemente mitein­ander kombiniert:

Es wird der maximale Zeitraum festgelegt, nach dessen Ablauf die volle Freizü­gigkeit der Arbeit­nehmer von allen Mitglied­staaten zu garan­tieren ist. Solange noch keine völlige Freizü­gigkeit herrscht, können die Mitglied­staaten den Zuzug von Arbeits­kräften aus den neuen Mitglied­staaten nach natio­nalen Bestim­mungen regeln. Dabei dürfen jedoch keine höheren Schranken als bisher etabliert werden.

Es findet eine automa­tische Überprüfung der Regelungen nach einer bestimmten Zeitspanne statt, um die Übergangszeit gegebe­nen­falls zu verkürzen. Darüber hinaus hat jeder neue Mitglied­staat das Recht, eine Überprüfung der Übergangs­be­stim­mungen, die ihn betreffen, in Hinblick auf eine Reduzierung der Zeitspanne zu beantragen.

Die Altmit­glied­staaten der Union können sich für eine volle Libera­li­sierung ihrer Arbeits­märkte bei Beitritt der neuen Mitglied­staaten entscheiden.

Um die Flexi­bi­lität dieser Regelung zu wahren, sind zu kompli­zierte “à la carte” Lösungen zu vermeiden, da sie schwierig zu verhandeln sind und in der techni­schen Umsetzung Probleme bereiten können. Generell wird es nicht einfach sein, sich mit den Kandi­da­ten­ländern über die Einzel­heiten dieser Option des “flexiblen Systems von Übergangs­reg­lungen” zu verstän­digen. Die Überprü­fungs­me­cha­nismen sind genau zu spezi­fi­zieren und das konkrete Entschei­dungs­ver­fahren für eine eventuelle Verkürzung der Zeiträume muss in den Beitritts­ver­trägen enthalten sein. Die Übergangs­re­ge­lungen bewirken, dass zu einem gewissen Grad und für einen bestimmten Zeitraum das volle Funktio­nieren des Binnen­markts in der erwei­terten Union von einzelnen oder allen bishe­rigen Mitglied­staaten behindert werden kann und somit auf Wohlstands­ef­fekte, die sich bei völliger Libera­li­sierung aller Märkte in der Union einstellen, verzichtet wird. Übergangs­re­ge­lungen sichern ferner den Arbeits­markt nicht gegen mögli­cher­weise auftre­tende Schocks ab.

Mit der Einführung eines festen Quoten­systems für die Zuwan­derung von Arbeits­kräften, sei es eine globale EU-Quote oder nationale Quoten bzw. regionale oder sektorale Quoten, wird der Zugang zum Arbeits­markt in den bishe­rigen EU-Mitglied­staaten durch eine vorab fixierte Obergrenze beschränkt. Reine Quoten­systeme funktio­nieren nach dem Prinzip “first come, first served”, d.h. nur dieje­nigen Arbeit­nehmer aus den Kandi­da­ten­ländern, die im Rahmen des festge­legten Kontin­gents zuwandern, erhalten eine Arbeits­ge­neh­migung in den Altmit­glied­staaten. Dies stellt eine sehr restriktive Beschränkung dar. Eine größere Durch­läs­sigkeit des Systems kann erreicht werden, indem die Quoten z.B. nach Regionen oder Sektoren oder anderen Bedingung (Tests, Bildungs­ab­schlüssen, Dauer des Arbeits­ver­trags usw.) diffe­ren­ziert werden. Die Vorteile von Quoten­sys­temen liegen darin, dass viele der EU-Mitglied­staaten über Erfah­rungen in der Handhabung von Quoten­re­ge­lungen verfügen und dass sie die Zuwan­derung von Arbeits­kräften auf beiden Seiten der Grenzen vorher­seh­barer machen. Letzteres vermittelt der Bevöl­kerung in den EU-15 Staaten ein größeres Gefühl der Sicherheit. Quoten­lö­sungen zeichnen sich aber anderer­seits durch wenig Flexi­bi­lität aus und können zu Schwie­rig­keiten führen, wenn sie nicht genau auf die Situation in sensiblen Sektoren oder Regionen bzw. auf die Verän­de­rungen über ihre Laufzeit abgestimmt sind. Dies gilt besonders, wenn kleine Quoten etabliert werden. Darüber hinaus behindern Quoten das Funktio­nieren des Binnen­marktes und verlangen nach einer hoher Verwal­tungs­kon­trolle bei der Vergabe der Arbeits­ge­neh­migung und bei der Überwa­chung des infor­mellen Arbeits­marktes. Ein phasing-out einzelner Beschrän­kungen könnte diese Nachteile eines Quoten­systems vermindern und eine allmäh­liche Anpassung im Hinblick auf die volle Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit im Zuge der Erwei­terung der Union erleichtern. Die Begrenzung des Zugangs für Arbeits­kräfte aus den neuen Mitglied­staaten durch Quoten erscheint nur in komplexe und technisch detail­lierten Verhand­lungen möglich.

Bei der Option Nicht-Anwendung des Acquis wird der heutige Status quo im Verhältnis von EU-Mitglied­staaten und Kandi­da­ten­länder ohne Ausnahmen vom grund­le­genden Prinzip der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit auch nach dem Beitritt für einen bestimmten Zeitraum fortge­führt. Von dieser verzö­gerten Einführung des Acquis im Bereich der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit sind nur dieje­nigen Beschäf­tigten ausge­nommen, die bereits in einem (Alt-) Mitglied­staat der EU arbeiten und leben, oder wenn es sich um Fälle von Famili­en­zu­sam­men­führung handelt.

Diese rigorose Alter­native zur Begrenzung der Zuwan­derung von Arbeits­kräften bietet den Vorteil, dass sie leicht zu imple­men­tieren ist und dem hohen Schutz­be­dürfnis der Bevöl­kerung für den Arbeits­markt entspricht. Diese Alter­native der Beschränkung der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit behindert jedoch am stärksten die volle Anwendung der Binnen­markt­re­gelung im Bereich der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit und ignoriert den möglichen ökono­mi­schen Bedarf an Arbeits­kräften in den bishe­rigen Mitglied­staaten sowie jegliche Anpassung an die Gegeben­heiten und Bedürf­nisse infolge der Erwei­terung der Union. Über die Option “Nicht-Anwendung des Acquis’ ” würde somit mit den Kandi­da­ten­ländern extrem schwierig zu verhandeln sein.


Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit im politi­schen Meinungsstreit

In der politi­schen und öffent­lichen Debatte in Deutschland nimmt das Thema Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit einen hohen Stellenwert ein. Auch in den Kandi­da­ten­ländern wird über diese Frage und die Haltungen der EU-Mitglied­staaten zur Freizü­gigkeit der Arbeit­nehmer intensiv diskutiert.

Die Bundes­re­gierung tritt für Übergangs­fristen im Bereich der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit ein. Sie sieht es als Aufgabe der Politik, die einzelnen Bestand­teile einer solchen Übergangs­re­gelung (Fristen, Flexi­bi­lität, Diffe­ren­zierung nach Staaten oder Staaten­gruppen) zu sortieren, um eine Erwei­terung innerhalb des begrenzten Zeitfensters, das für die Beitritte der Neumit­glieder offen steht, zu ermög­lichen. Die von der Kommission vorge­schlagene “5 + 2 Regelung” hält sie für eine flexible Lösung, die auch zur weiteren Entdra­ma­ti­sierung der Proble­matik um die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit beiträgt. Die Ungewissheit über die Größen­ordnung der Migra­ti­ons­wellen sowie die innen­po­li­tische Situation (besonders die Zurück­haltung gegenüber Zuwan­derung in der deutschen Öffent­lichkeit und die arbeits­markt­po­li­ti­schen Befürch­tungen der Bevöl­kerung) machten Übergangs­fristen aus politisch-psycho­lo­gi­sches Gründen notwendig.

Die größte Opposi­ti­ons­partei im Deutschen Bundestag, die CDU, votiert ebenfalls für Übergangs­fristen. Sie hält jedoch eine starre Übergangs­frist von sieben Jahren hinsichtlich der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit für das falsche Signal. Es könnte die EU-Bürger nur in ihren Befürch­tungen vor einer Massen­mi­gration bestärken und ihnen eine falsche Sicherheit vortäu­schen. Denn eine Anglei­chung des Lohnni­veaus in den Kandi­da­ten­ländern an den EU-Durch­schnitt wird Jahrzehnte beanspruchen — die Beschränkung der Freizü­gigkeit aber nur die ersten fünf Jahre des Zeitraums bestehen. Es wurde auch auf politisch-taktische Schwie­rig­keiten hinge­wiesen. Auf europäi­scher Ebene würde eine Beschränkung der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit als Ausdruck der natio­nalen Inter­essen einiger weniger Mitglied­staaten (Deutschland und Öster­reich) dahin­gehend gewertet, weitere nationale Forde­rungen anderer Mitglied­staaten zu provo­zieren. Dies führt dann am Ende zu teueren Paketlösungen.

Es wurde nicht nur von wissen­schaft­licher Seite daran erinnert, dass die vier Grund­frei­heiten, zu der die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit zählt, zu den Grund­prin­zipien der EU gehören. Übergangs­re­ge­lungen in diesen Bereichen müssen folglich unumgänglich und flexibel ausge­staltet sein und dürfen keine regio­nalen oder sekto­ralen Begren­zungen enthalten. Für eine volle Entfaltung des ökono­mi­schen Poten­tials erscheint es zudem sinnvoll, keine Beschränkung der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit bei der Erwei­terung der Union vorzu­nehmen, da Dienst­leis­tungs­freiheit (kapital­in­tensive Produktion, bei der die EU-15 Staaten im Vorteil sind) und Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit (arbeits­in­tensive Produktion, bei der die Kandi­da­ten­länder Vorteile aufweisen) eng korrelieren.

Die Inter­es­senlage der Wirtschafts­ak­teure ist diffe­ren­zierter. Von Seiten des Deutschen Bauern­ver­bands wird die Erwei­terung auch als Chance für die deutsche Landwirt­schaft gesehen. Um ihre Wettbe­werbs­fä­higkeit zu sichern, besonders um in den arbeits­in­ten­siven Agrar­märkten den Bedarf an Saison­ar­beitern decken zu können, tritt z.B. der Bauern­verband entspre­chend den Prinzipien des Binnen­marktes für die Gewährung der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit und eine Verbes­serung der jetzigen Regelung für Saison­ar­beiter ein.

In den Beitritts­ländern werden in Hinblick auf die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit vor allem die übertrie­benen Annahmen von Seiten der EU-15 bzgl. der Migration kriti­siert. Zudem herrscht in den Kandi­da­ten­ländern der Eindruck vor, dass das Thema in erster Linie ein öster­rei­chi­sches und deutsches Anliegen ist. Besonders mit Blick auf das deutsch-polnische Verhältnis wird vor den negativen Auswir­kungen gewarnt. Deutschland wird hier als Integra­ti­ons­bremser wahrge­nommen. Man müsse aber darauf hinwirken, die Begrenzung der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit nicht als ein bilate­rales Problem darzu­stellen und anzugehen.


Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit und Ein- bzw. Zuwanderung

Vor dem Hinter­grund der langfris­tigen Sicherung der Renten und anderer Sozial­leis­tungen sowie der Prognosen zur demogra­phi­schen Entwicklung der deutschen Bevöl­kerung wird die Diskussion in Deutschland um die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit und die Migration im Zuge der Osterwei­terung nach und nach mit der Ein- bzw. Zuwan­de­rungs­de­batte verbunden. Die Erwei­terung der Union eröffnet für die heutigen EU-Staaten die Chance, hochqua­li­fi­zierte Arbeits­kräfte hinzu­zu­ge­winnen und der rückläu­figen demogra­phi­schen Entwicklung entge­gen­zu­wirken. In Deutschland findet derzeit ein Umdenken bzgl. Zuwan­derung in der öffent­lichen und politi­schen Diskussion statt.

In Zusam­menhang mit den Effekten für den deutschen Arbeits­markt ist jedoch darauf hinzu­weisen, dass die Beschäf­ti­gungs­quote in Deutschland von der jewei­ligen Wirtschafts­kon­junktur und dem erfolg­reichen Struk­tur­wandel in einigen Branchen abhängt. Somit können die Auswir­kungen der Zuwan­derung bzw. der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit auf den Beschäf­ti­gungs­markt nicht getrennt von der allge­meinen Wirtschaftslage gesehen werden. Zudem sind die Alters­truktur und das Bildungs­niveau der Menschen, die nach Deutschland wandern, entscheidend für die Effekte auf den Arbeits­markt, das Renten- und Sozial­system und die Bevöl­ke­rungs­ent­wicklung. Eine sachge­rechte Debatte, die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit und Zuwan­derung verbindet, muss diese Faktoren einbeziehen


 

Die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit als Stolper­stein der Beitrittsverhandlungen

Die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit gehört zu den schwie­rigen Verhand­lungs­ka­piteln im Zuge der Erwei­terung der Europäi­schen Union um die MOE-Staaten. Eine Lösung im Bereich der Freizü­gigkeit der Arbeit­nehmer steht im Spannungsfeld von unter­schied­lichen Inter­essen. Der Forderung nach möglichst wenigen, zeitlich befris­teten und flexiblen Beschrän­kungen im Sinne der Prinzipien des Binnen­marktes stehen die jewei­ligen Inter­essen der Mitglied­staaten zum Schutz ihre Arbeits­marktes gegenüber. Um ein tragfä­higes Verhand­lungs­er­gebnis zu erzielen, ist ein gewisses Maß an Verständnis für die jeweilige Situation von den Kandi­da­ten­ländern und den Mitglied­staaten gefordert. Es ist nicht auszu­schließen, dass die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit ein strit­tiges Thema in den Beitritts­ver­hand­lungen und im Rat der Union bleiben wird. Aus Gründen der Stabi­lität der Entwicklung in den Beitritts­länder erscheint es jedoch wünschenswert, die Verhand­lungen über diesen Punkt politisch zu begleiten und den neuen Mitglied­staaten in dieser Frage mehr entge­gen­zu­kommen. Unter dem Gesichts­punkt des Kosten-Nutzen-Kalküls besteht die Gefahr, dass eine Beschränkung der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit sowohl finan­ziell — durch das Schnüren von Paketen unter den heutigen Mitglied­staaten — als auch politisch die “teuere” Alter­native sein kann, da die Bezie­hungen zu den neuen Mitglied­staaten belastet werden. Grund­sätzlich wird jedoch die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit nicht als der Stolper­stein in den Beitritts­ver­hand­lungen gesehen. Eine größere Belastung für die Aufnahme der neuen Mitglied­staaten scheint vielmehr durch die Gemeinsame Agrar­po­litik bzw. durch das spanische Memorandum und die Ansprüche an die EU-Regio­nal­po­litik zu entstehen.


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